S ie haben mir meine Rippen gebrochen!“, schreit eine junge und schmächtig wirkende Frau mit Grundgesetz in der Hand, während ihr Gesicht auf den warmen Asphalt gedrückt wird von zwei Polizisten, die beide jeweils doppelt so groß sind wie sie. Eine ältere Frau, die aufgeregt daneben steht, schreit ohrenbetäubend laut: „Lassen Sie meine Tochter los! Rufen Sie einen Arzt!“.
Eine andere Frau ruft den Kräften der Einsatzhundertschaften, die an der Ecke Hirtenstraße/Kleine Alexanderstraße eine Gefange-nensammelstelle eingerichtet haben, auf Türkisch Schimpfwörter zu. Sie lacht dabei. Ein Junge auf dem Fahrrad, ein Fußball unter dem linken Arm geklemmt, radelt, aus Richtung Weydingerstraße kommend, an der Szenerie vorbei und sagt: „Endlich mal was los.“
Es sind viel mehr Frauen, zumindest unter den Festgenommenen, als letzte Woche. Eine Frau rezitiert unbeirrt aus dem Grundgesetz, während sie in der polizeilichen Maßnahme von zwei Polizisten in Kampfmontur, jeweils zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten, abgeführt wird. Frauen Power im Dienste der Grundrechteverteidigung.
Unter den Festgenommenen in der Gefangenensammelstelle ist auch Uli Gellermann, der gefasst wirkt während er mit seinem Handy am Ohr mehrmals versucht, einen Rechtsanwalt zu erreichen. Nicht so einfach an einem Karsamstag in Coronazeiten.
Wenige Meter vom Rosa-Luxemburg-Platz entfernt, hinter dem BABYLON Kino, führen Hunderte Polizisten die Verfassungs-spaziergänger, die es gewagt haben, auf dem Weg zum vorösterlichen Klopapierkauf im Supermarkt mit dem Grundgesetz in der Hand durch das Scheunenviertel zu spazieren, in die Gefangenensammelstelle ab.
Die Festgenommenen, jung, alt, weiblich, männlich, bürgerlich, alternativ, kurz: bunt gemischt, stehen in einer Reihe, gepresst an der Rückwand des edlen Steakhauses The Grand, in dem ein Chateaubriand Filet vom Grill (250 Gramm) 105,00 Euro am fein gedeckten Tisch kosten würde, wenn die Küche nicht wegen der Notstandsverordnungen geschlossen bleiben müßte.
Mit einem rot-weißen Polizeiband, auf dem in großen schwarzen fettgedruckten Buchstaben „TATORT NICHT BETRETEN!“ steht, ist die Reihe der an die Steakhauswand gepressten Delinquenten abgesperrt. Auf der anderen Seite des „TATORT NICHT BETRETEN!“-Bands steht eine freie Gasse für die Bereitschafts-polizisten bereit, ein Fast Track für die Einsatzhundertschaften, die, nachdem sie die Verfassungsguerilleros in der Gefangenensammelstelle abgeliefert haben, über den Fast Track wieder zurück ins Scheunenviertel ausschwärmen, als Häscher der staatlichen Obrigkeit auf der Suche nach renitenten Grundgesetzpartisanen im demokratischen Widerstand.
Polizeiliches Erkennungsmerkmal: ein Grundgesetz in der Hand.
Die Gefangenensammelstelle heiße im Beamtendeutsch der Bereitschaftspolizei Bearbeitungsstraße, so erklärt es Polizeisprecher Martin Halweg in der durch die Einsatzkräfte bereits beruhigten Rosa-Luxemburg-Straße. In die Bearbeitungsstraße würden die Beschuldigten hineingeführt, ihre Personalien überprüft, die Personalien mit den Fahndungen abgeglichen, dann die Personalien erfasst zusammen mit den begangenen Straftaten, in diesen Fällen Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz sowie Verstöße gegen die Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Berlin (SARS-CoV-2-EindmaßnV), erläutert Halweg.
Die Beschuldigten würden nach den Festnahmen gegebenenfalls wieder entlassen, falls es keine Haftgründe gebe, so Halweg. Andernfalls würden Beschuldigte einem Haftrichter vorgeführt.
Laut der Polizeisprecherin Valeska Jakubowski seien es heute 350 Personen gewesen, die dem Aufruf der Nicht ohne uns-Bewegung der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand, einem Verein in Gründung zur Verteidigung des Grundgesetzes, gefolgt seien. Ebenfalls zur Teilnahme aufgerufen hatte die Rote Fahne-Gruppe, die von „1.000 Demokraten auf und rund um den Rosa-Luxemburg-Platz“ spricht und auf einen „erfolgreichen Protest gegen die Einschränkung der Grundrechte“ zurückblickt.
Wie viele strafprozessuale Maßnahmen heute gegen Verfassungs-spaziergänger eingeleitet werden, vermag Jakubowski noch nicht abschließend abschätzen zu können, da es weiterhin zu Festnahmen komme an diesem Karsamstagnachmittag.
31 Beschuldigte seien es beim letzten Mal gewesen, erinnert sich Jakubowski an die Zahl der Aufrührer, gegen die am vorangegangenen Samstag strafprozeßuale Maßnahmen eingeleitet worden seien, weil sie am 4. April über den Rosa-Luxemburg-Straße oder anliegende Straßen auf dem Wege zum Wochenendeinkauf mit einem Grundgesetz in der Hand spazieren gingen.
Jakubowski sagt, es sei die Aufgabe der Polizei bei einer Versamm-lung trotz Verbot entschieden einzugreifen. Es werde heuer auch keine Ostermärsche der Friedensbewegung geben. „Die sind untersagt!“, informiert Jakubowski.
Stephan Steins, Chefredakteur der traditionsreichen sozialis-tischen Zeitung Die Rote Fahne, sagte in einer Stellungnahme: „1932 mobilisierten wir unter der Losung, die als die bekannteste ihrer Zeit in die Geschichte einging: ‚Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg.‘
Es ist die Geschichte selbst, die dem deutschen Volk eine schwere Bürde aufgeladen, aber auch Handlungsorientierung an die Hand gegeben hat. Der antifaschistische Widerstand, verbunden mit dem Namen Ernst Thälmann ebenso wie mit vielen bürgerlichen Widerstandskämpfern, gehört zu den wertvollsten Traditionen der deutschen Nation.
Es entspricht daher unserer historischen Verantwortung, eine breite Front aller Demokraten gegen Aussetzung und Abbau von Grundrechten und gegen einen drohenden Faschismus des 21. Jahrhunderts zu schmieden.
Wir fordern die Putschisten gegen die bürgerlichen Grundrechte auf, umgehend zurückzutreten! Wir rufen alle Demokraten auf, gemeinsam für die Grundrechte der bürgerlich-demokratischen Republik der Europäischen Aufklärung einzustehen!“
Hendrik Sodenkamp von der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand kommentierte die heutigen Ereignisse scharf: „Die Rot-Rot-Grüne Regierung wollte ein finales Exempel statuieren und wird von nun an jede öffentliche, politische Meinungsäußerung unter-binden. Sie wollen die Zivilgesellschaft Berlins zerschlagen. Heute ist es eskaliert. Mit medizinischer Logik hat das nichts mehr zu tun. Vom Grundgesetz haben sich die Herrschaften heute verabschiedet. Willkommen in der neuen Gesellschaft.“
Sodenkamps Kollege Anselm Lenz ergreift trotz Erschöpfung vom Grundgesetzverteilen das Wort: „Ich bin völlig fertig. Das sind nicht mehr Verhältnisse wie in einer Diktatur. Das ist die Diktatur. Ich muss mich sammeln. Wir werden in der kommenden Woche ein Rechtshilfe-konto einrichten. Und wir werden mit allen antitotalitären Kräften eine Zeitung produzieren mit dem Titel ‚Corona Zeitung‘ und in einer Auflage von 1.000.000 in der Bundesrepublik auf dem Weg zum Supermarkt und top-hygienisch verteilen. Wir sind Journalist*innen. Und werden unsere Arbeit auf Basis des GG machen. Whatever it takes.“
Polizeisprecher Thilo Cablitz stellt hingegen unmißverständlich klar, daß es auch in Zukunft polizeiliche Maßnahmen gegen die Grundgesetzverteiler gebe, sollte dies erforderlich sein: „Gemäß § 1 I SARS-CoV-2-EindmaßnV sind öffentliche und nicht öffentliche Veranstaltungen, Versammlungen, Zusammenkünfte und Ansamm-lungen grundsätzlich verboten. Ein Ausnahmetatbestand war nicht gegeben. In der Folge kam der Polizei Berlin die Aufgabe zu, die SARS-CoV-2-EindmaßnV durchzusetzen, die Eindämmung des Coronavirus zu unterstützen und damit den Schutz der Bevölkerung zu gewähr-leisten.“
Unterdessen kündigte die Rote Fahne-Gruppe für kommenden Samstag eine Grossdemonstration und Volksfest an: „Der Arbeiter- und Volksrat des Landes Berlin gibt bekannt: Sämtliche Einschränkungen der Grundrechte werden mit Wirkung 18. April aufgehoben!“
Jakubowski dementiert, daß die Einschränkungen mit Wirkung 18. April aufgehoben werden würden. „Die gelten mindestens bis zum 19. April!“, verlautbart die Polizeisprecherin während im Hinter-grund die Schreie aus der Bearbeitungsstraße ertönen.