D ie Skandale rund um die Döner-Mordserie/NSU-Komplex reissen nicht ab. Heute hat das Oberlandesgericht (OLG) München unter dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl einen der Hauptverdächtigen, den Agenten des Hessischen sog. “Verfassungsschutzes” Andreas Temme, laufen lassen.
Auch lehnte es das Gericht ab, die vollständigen Akten aus dem Untersuchungsverfahren zu Agent Temme zu den Prozessakten zu nehmen.
Das Strafverfahren gegen die Hauptangeklagte 38-jährige Beate Zschäpe und weitere Beschuldigte ist KEIN Prozess zur Aufklärung des NSU-Komplexes, wir berichteten. [1]
Das Verfahren hat zwar bislang die Tatvorwürfe gegen Beate Zschäpe nicht zu erhärten vermocht, stattdessen wird immer deutlicher, dass die gesamte NSU-Story nebst Prozess einem Drehbuch folgt und weit von jeglicher Rechtsstaatlichkeit entfernt ist, zu einzelnen Details siehe:
→ DOSSIER – NSU: Nazi oder NATO?
Nebenklage fordert Akteneinsicht – und erhält sie nicht
Dies bestätigte sich auch heute wieder, als Nebenkläger-Rechtsanwälte erneut die Aktenbeiziehung und vollständige Akteneinsicht in Sachen “Verfassungsschutz”-Agent Andreas Temme beantragten – und das Gericht dies jedoch ablehnte!
Mehrere Nebenklagevertreter widersprachen der Fortsetzung der Vernehmung des Agenten Temme, solange ihrem Antrag auf Beiziehung der Akten und Einsicht für alle Prozessbeteiligten zu gewähren nicht entsprochen werde.
Rechtsanwalt Alexander Kienzle warf auch im Namen der weiteren Nebenklagevertreter Thomas Bliwier und Doris Dierbach dem Senat vor, „dass auch dieses Gericht eine vollständige Aufklärung der Tat zum Nachteil Halit Yozgats nicht wünscht“.
Agent Temme ist im Zschäpe-Prozess lediglich als “Zeuge” geladen, obwohl er nachweislich an mindestens einem der Tatorte zur Tatzeit anwesend war, ganz im Gegensatz zur Hauptangeklagten Beate Zschäpe.
Andreas Temme ist, obwohl einer der Hauptverdächtigen in der Döner-Mordserie/NSU-Komplex, ein freier Mann, während die BRD, ihre Justiz und die Medien des NATO-Mainstreams weiterhin fieberhaft daran arbeiten, die Existenz einer rechten Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) zu belegen.
Dramatische Szenen am heutigen 63. Prozesstag
Während der heutigen Verhandlung meldeten sich Angehörige des Mordopfers Halit Yozgat zu Wort, der am 06. April 2006 in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde.
„Ich bin Ismail Yozgat“, tönte es von hinten in den Saal, „mein Sohn hat sein Leben in meinen Armen verloren. Von 2000 bis 2011 wurden Akten vernichtet, versteckt, verbrannt“, sagte der Vater mit bebender Stimme.
„Und als ob das noch nicht genug wäre, jetzt werden die Akten Temme mit der Begründung der Irrelevanz nicht hergegeben!“
Vater Yozgat verlangte eindringlich, dass sämtliche Akten auf den Tisch gelegt werden müssen.
Die Mutter des Mordopfers, Ayşe Yozgat, pflichtete ihrem Mann aufgewühlt und verzweifelt bei: „Wenn ein Baby zur Welt kommt, ich habe meinen Sohn 21 Jahre lang aufgezogen. Und von einer Sekunde auf die andere ist sein Leben zu Ende.
Mein Leben seit seinem Tod ist das einer Toten. Immer wenn die Polizei kam, um uns zu verhören, haben wir uns als Schuldige gefühlt. So, wie wir immer ausgesagt haben, wollen wir, dass alle Akten hergegeben werden. Das ist unser Recht als Vater und Mutter.“
Die BRD-Behörden jedoch kennen keine Gnade mit den Opfern und ihren Angehörigen – die Akten Temme bleiben von dem Verfahren ausgenommen.
Trotz Fremdschämens als deutscher Demokrat muss die Frage gestellt werden: Wie tief stecken die BRD und ihre Justiz bereits im imperialen Faschismus?
Der Fall des Agenten Andreas Temme
Konkret ging es heute um den Mord an dem 21 Jahre alten Halit Yozgat und die Frage, wieso der ehemalige sog. “Verfassungsschützer” Andreas Temme (dienstlicher Aliasname: Alexander Thomsen) in dem Internetcafé in der Holländischen Strasse in Kassel anwesend war, just zu dem Zeitpunkt als Yozgat kaltblütig erschossen wurde. Temme wurde nach dem Auffliegen seiner Verwicklung in den Tatort vom sog. “Verfassungsschutz” abgezogen und in eine andere Behörde versetzt.
Agent Temme führte einen ortsbekannten Neonazi als Vertrauensmann (V-Mann), mit dem er ein Duzverhältnis pflegte und am Mordtag in telephonischem Kontakt stand. Er war unstreitig zur Tatzeit am Tatort, als das Opfer zwischen 16.54 und 17.03 Uhr durch zwei Schüsse in den Kopf getötet wurde, wie die Polizei ermittelte.
Temme, der sich nach eigenen Angaben um 16.50 Uhr ins Internet einloggte, loggte sich frühestens um 17.01 Uhr aus. Er muss nach menschlichem Ermessen das Verbrechen mitbekommen haben, selbst wenn er sich zur Zeit der Schussabgabe im Nebenraum aufgehalten haben sollte.
Zumindest hätte der 1,89 Meter grosse Mann den hinter dem blutbespritzten Tresen am Boden liegenden Sterbenden wahrnehmen müssen, als er beim Verlassen 50 Cent Gebühr auf den Tisch legte.
Dem öffentlichen Aufruf, sich als mögliche Zeugen des Mordes zu melden, folgten fünf Personen. Sie erwähnten einen weiteren Besucher. Die Polizei konnte schliesslich dessen Identität feststellen: Es ist VS-Agent Andreas Temme, der sich im Internet als “Jörg Schneeberg” ausgegeben hatte.
Damit wurde erstmals in der gesamten sog. Döner-Mordserie ein Tatverdächtiger polizeilich namentlich ermittelt und identifiziert. Das laufende Strafverfahren müsste eigentlich Temme-Prozess heissen – kennen Sie den Film “Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt”?
In den folgenden Vernehmungen gab Temme immer wieder neue Versionen zum Besten, die er jeweils dem aktuellen Ermittlungsstand anpasste.
Erst kannte er – in dem Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachzuweisen – das Internetcafé angeblich nicht, dann will er zu einem anderen Zeitpunkt, am 05. April 2006, dort gewesen sein und schliesslich habe er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen, wie es im Beweisantrag der Nebenkläger vom 12. November 2013 heisst.
Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, dass er zur Tatzeit am Tatort war, gibt er als Grund an, er habe dort als Privatperson in einem Erotikportal gesurft. Das sei auch der Grund gewesen, sich nicht als möglicher Zeuge zu melden.
Diesen dreisten Mumpitz wohlgemerkt gibt ein Beamter des sog. “Verfassungsschutzes” zum Besten, angesichts der grössten Mordserie in der Geschichte der BRD.
Mit Temmes Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie erfährt, dass Temme während seiner behaupteten “Chataffäre” im operativen Einsatz war.
Auf seinem Mobiltelephon werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telephonkontakt zu Neonazis hatte. Damit konfrontiert, erklärt Temme, dass er deren V-Mann-Führer sei.
Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort und die Telephonate mit Neonazis spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi.
Diese Amtshilfe wird zuerst von Alexander Eisvogel, Chef des hessischen sog. “Verfassungsschutzes”, wenig später auch von Hessens Innenminister Volker Bouffier (CDU) abgelehnt.
Originalton Bouffier: „Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen (…) zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden“, hiess es in der ZDF-Sendung “Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios” vom 26. Juni 2012.
Auch weigert sich der heutige Hessische Ministerpräsident Bouffier in der Innenausschuss-Sitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen. Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, laufen alle weiteren Bemühungen um Aufklärung ins Leere.
Beschützt, gedeckt und abgeschirmt, werden die Ermittlungen gegen den VS-Mann Temme im Januar 2007 eingestellt.
Vorläufig letzter Akt dieser fortgesetzten Unterschlagung und Manipulation von Beweismitteln und Aktenbeständen: Zum Fall Temme existieren, soweit derzeit bekannt, insgesamt 35 Aktenordner im Hause des Generalbundesanwalts.
Bis heute liegen diese weder dem in München tagenden Senat noch den Rechtsanwälten vor. Soviel zur Aufklärungspflicht einer Bundesanwaltschaft und der Aufgabe des Gerichtes, im Rahmen ihrer Aufklärungspflicht „alle nicht von vornherein aussichtslosen Schritte zu unternehmen, um zu einer möglichst zuverlässigen Beweislage zu gelangen“, wie es im Beweisantrag der Nebenkläger heisst.
VS-Agent Andreas Temme wird jedoch nicht nur mit dem Mord in Kassel in Verbindung gebracht.
„Hat ein Verfassungsschützer einen der NSU-Morde begangen?“, untertitelte Die Zeit am 05. Juli 2012 eine Recherche über den Tod von Haliz Yozgat, und gemeint war Andreas Temme, zum Tatzeitpunkt 39 Jahre alt.
„Nach Bild-Informationen ergab ein Bewegungsprofil der Polizei: Der Agent war bei sechs der neun Morde in der Nähe des Tatortes“, meldete das Springer-Blatt am 15. November 2011. Diese Information verschwand später wieder aus der Mainstream-Berichterstattung.
Laut Medienberichten äusserte sich sogar ein hochrangiger Ermittler entsetzt: „Unfassbar: Dem Verdächtigen wurde entlastend ausgelegt, dass er zum Tatzeitpunkt nur in sechs der neun Morde in der Stadt war.“
DOSSIER
- Zschäpe-Prozess ist kein NSU-Prozess, 06.05.2013 ↩