Über den offenen Brief des NSA-Whistleblowers Edward Snowden wurde heute in den Medien recht häufig berichtet, aber während Snowden in seinem Brief seine Unterstützung für Brasiliens Untersuchungen über die NSA ausdrückte und deren Bedeutung betonte, stellten die Medien das anders dar.
Die (Mainstream-)Medien berichteten einheitlich von Anfang an, dass Snowden versuchte, in Brasilien Asyl zu erhalten, wobei einige behaupteten, dass er dieses von Brasilien “forderte” als Gegenleistung für seine Hilfe bei der Untersuchung.
Der wirkliche Brief allerdings erwähnt Asyl überhaupt nur einmal, indem er einfach feststellt, dass Snowden, der dem russischen Präsidenten Putin versprochen hat, seine weitere Mitwirkung am NSA-Skandal als Bedingung für sein zeitweiliges Asyl einzuschränken, in seinen Möglichkeiten, Unterstützung zur Verfügung zu stellen, eingeschränkt ist, bis ihm irgendwo ständiges politisches Asyl gewährt wurde.
In dem Brief ist keine Rede von einem Ansuchen um Asyl in Brasilien, und bis dato hat Snowden auch nicht formal in dem Land um Asyl angesucht, auch Brasilien erwägt nicht, ihm dieses anzubieten.
Der Brief legt sicher die Annahme nahe, dass Brasilien oder sonst jemand sich eine umfassendere Mithilfe bei Untersuchungen sichern kann, wenn es ihm Asyl gewährt, aber das war keine Forderung, ja nicht einmal eine Anfrage.
Nachstehend finden Sie den Snowden-Brief
Vor sechs Monaten trat ich aus dem Schattenreich der National Security Agency (NSA) der USA vor die Kamera eines Journalisten. Ich legte der Welt Beweise vor, die belegten, dass einige Regierungen ein weltweites Bespitzelungssystem aufbauen, um insgeheim herauszufinden, wie wir leben, mit wem wir reden, und was wir sagen.
Ich trat vor diese Kamera sehenden Auges und mit dem Wissen, dass diese Entscheidung mich Familie und Heim kosten und mein Leben aufs Spiel setzen wird. Motiviert war ich durch die Überzeugung, dass es den Bürgern der Welt zusteht, das System zu verstehen, in dem sie leben.
Meine grösste Befürchtung war, dass niemand auf meine Warnungen hören wird. Noch nie war ich so froh darüber, dass ich mich getäuscht habe. Die Reaktion in bestimmten Ländern war für mich besonders beeindruckend und Brasilien ist sicher eines von diesen.
In der NSA beobachtete ich mit wachsender Beunruhigung die Bespitzelung ganzer Bevölkerungen ohne jede Einsicht, etwas Falsches zu tun, und das droht die grösste Herausforderung der Menschenrechte in unserer Zeit zu werden.
Die NSA und andere Spionagebehörden sagen uns, dass sie für unsere eigene “Sicherheit” – für Dilmas “Sicherheit”, für Petrobras’ “Sicherheit” – unser Recht auf Privatsphäre abgeschafft haben und in unser Leben eingedrungen sind.
Und das taten sie, ohne die Öffentlichkeit in irgendeinem Land zu fragen, nicht einmal in ihrem eigenen.
Wenn Sie heute ein Mobiltelephon in Sao Paolo bei sich haben, dann kann die NSA ihren Aufenthaltsort im Auge behalten und tut das auch: Sie tun das 5 Milliarden Mal täglich bei Menschen in aller Welt.
Wenn jemand in Florianopolis eine Website besucht, dann zeichnet die NSA auf, wann da vor sich geht und was du dort gemacht hast. Wenn eine Mutter in Porto Alegre ihren Sohn anruft, um ihm Glück für sein Universitätsexamen zu wünschen, dann kann die NSA diesen Anruf fünf Jahre lang oder länger speichern.
Sie verfolgen auch, wer eine Liebesaffäre hat oder Pornographie konsumiert, für den Fall, dass sie den guten Ruf ihres Zielobjekts schädigen müssen.
US-Amerikanische Senatoren sagen uns, dass Brasilien sich keine Sorgen machen soll, weil das keine Überwachung sei, sondern lediglich “Datensammeln”.
Sie sagen, dass das gemacht wird, um deine Sicherheit zu gewährleisten. Sie irren sich.
Es besteht ein grosser Unterschied zwischen legalen Programmen, rechtmäßiger Überwachung, rechtmäßiger Strafverfolgung – wo Individuen ins Visier genommen werden aufgrund eines begründeten personenbezogenen Verdachts – und diesen Programmen einer Schleppnetz-Massenüberwachung, die ganze Bevölkerungen unter alles sehende Augen stellen und für alle Zeiten Kopien speichern.
Bei diesen Programmen ging es nie um Terrorismus: Hier geht es um Wirtschaftsspionage, soziale Kontrolle und diplomatische Manipulationen.
Es geht schlicht um Macht.
Viele brasilianische Senatoren stimmen zu und haben um meine Mithilfe gebeten bei ihren Untersuchungen von mutmaßlichen Verbrechen gegen brasilianische Bürger.
Ich habe meine Bereitschaft bekundet zu helfen, wo immer es angebracht und gesetzlich gerechtfertigt ist, aber leider hat die US-Regierung sehr hart daran gearbeitet, meine Fähigkeit, das zu tun, einzuschränken.
Sie gingen sogar so weit, die Präsidentenmaschine von Evo Morales zur Landung zu zwingen, um mich daran zu hindern, nach Lateinamerika zu reisen!
Bis ein Land mir ständiges politisch Asyl gewährt, wird die US-Regierung weiterhin versuchen, meine Möglichkeit zur persönlichen Aussage zu vereiteln.
Vor sechs Monaten enthüllte ich, dass die NSA die gesamte Welt abhören will. Jetzt hört die ganze Welt mit und sagt es auch. Und der NSA passt gar nicht, was sie da hört.
Die Kultur der willkürlichen weltweiten Überwachung bricht zusammen, nachdem sie öffentlichen Debatten und realen Untersuchungen auf allen Kontinenten ausgesetzt ist.
Erst vor drei Wochen brachte Brasilien das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen (UNO) dazu, zum ersten Mal in der Geschichte anzuerkennen, dass die Privatsphäre nicht aufhört, wo das digitale Netzwerk beginnt und dass die massenhafte Überwachung Unschuldiger einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstellt.
Der Trend hat sich gedreht und endlich können wir eine Zukunft sehen, in der wir sicher sind, ohne unsere Privatsphäre opfern zu müssen. Unsere Rechte können nicht von einer geheimen Organisation eingeschränkt werden und US-amerikanische Behörden sollten nie über die Freiheiten von brasilianischen Bürgern entscheiden können.
Sogar die Verteidiger der Massenüberwachung, diejenigen, die vielleicht nicht überzeugt sind, dass unsere Überwachungstechniken in bedrohlicher Weise der demokratischen Kontrolle entglitten sind, stimmen jetzt zu, dass in Demokratien die Überwachung der Öffentlichkeit von der Öffentlichkeit selbst debattiert werden muss.
Meine Überzeugungstat begann mit einer Feststellung: „Ich will nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage, alles, was ich mache, jeder, mit dem ich spreche, jeder Ausdruck von Kreativität oder Liebe oder Freundschaft aufgezeichnet wird.
Das ist nichts, das ich unterstützen will, es ist nichts, das ich aufbauen will, und es ist nichts, unter dem ich leben will.“
Wenige Tage später erfuhr ich, dass meine Regierung mich staatenlos gemacht hat und mich einsperren will.
Der Preis für meine Rede war mein Reisepass, aber den würde ich wieder bezahlen: Ich will keiner sein, der Verbrechen um der politischen Bequemlichkeit willen ignoriert. Lieber will ich ohne einen Staat leben als ohne eine Stimme.
Wenn Brasilien nur eines von mir hört, dann soll es das sein: Wenn wir alle uns verbinden gegen Ungerechtigkeiten und zur Verteidigung von persönlicher Freiheit und grundlegenden Menschenrechten, dann können wir uns sogar gegen die mächtigsten Systeme behaupten.
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