A m 10. Dezember 1513 schreibt Niccolò Machiavelli aus dem Exil in San Casciano an seinen Freund, Francesco Vettori, florentinischer Botschafter beim Papst: Tagsüber sitze ich mit den Bauern in der Schenke.
„Aber am Abend kehre ich nach Hause zurück und trete in mein Kabinett. Ich lege die Alltagskleidung ab, voll von Staub und Schmutz, und kleide mich in höfische und königliche Kleidung. So würdig angetan, trete ich in die antiken Höfe zu den Alten, … und ich scheue mich nicht, mit ihnen zu sprechen und sie nach den Gründen ihrer Taten zu befragen… Ich versetze mich ganz in sie…“
Kann man den Intellektuellen mit seinem Pathos besser zeichnen? Kann sich der Intellektuelle aufrichtiger selbst charakterisieren?
Damals schrieb Machiavelli den „Fürsten“. Und dabei wird klar: Der politische Intellektuelle kann nicht die Welt analysieren und dekonstruieren und gleichzeitig Politik machen.
Nach der Oktoberrevolution war Lenin nicht nur Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, “Ministerpräsident”, wenn man will. Er schrieb maßgeblich am neuen Parteiprogramm mit und fragte theoretisch nach den „nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“.
Er übertrifft an Realismus, Aufrichtigkeit und an analytischer Kraft noch immer seine Genossen. Aber er wird erkennbar zum Ideologen, zum Menschen, der nicht mehr nur konstatiert, nicht mehr in Frage stellt, nicht mehr Kritik übt, sondern hauptsächlich rechtfertigt.
Wie soll dies anders auch gehen?
Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht sind Disziplinierung, Sicherstellung der Unterordnung der Arbeiter unter eine einheitliche Leitung, der Aufbau der Verwaltung mit den gegebenen Mitteln. Denn es gibt, wie er Beginn 1918 auf dem Parteitag bei der Beratung über das neue Programm feststellt, nun einen “Staat neuen Typs”.
Ja: Aber worin besteht dieser neue Typ konkret? Drauf erhalten wir keine Antwort. Der ehrliche Hinweis darauf, gegen Bucharin, der einen Detail-Entwurf wollte: Wir wissen dies noch nicht und wir wollen keine Utopisten sein, enthält auch jede Möglichkeit, in die Beliebigkeit des gerade Bötigen zu flüchten.
Der Intellektuelle kann nicht gleichzeitig Politiker zu sein, ohne dass er notwendig aufhört, die Kernfunktion des Intellektuellen zu erfüllen: die kritische Analyse.
Dies gilt umso mehr für linke, emanzipative Bewegungen, die in einem Widerspruch schlechthin drinnen stehen: Sie wollen und müssen die neuen Verhältnisse gestalten – das heißt: Sie üben Herrschaft aus.
Gleichzeitig ist es das Ziel der Bewegung, Herrschaft zu kontrollieren, die Betroffenen als potenzielle Gegenmacht zu organisieren, Selbstbestimmung zu fördern.
Ein Mario Monti kann leicht sagen (am 05. August in diversen Zeitungen): Wir, die EU-Regierungen, müssen die Demokratie abbauen, sie verhindern; etwas vernebelt: Die Regierungen müssen ihre Handlungsfreiheit auch gegenüber den Parlamenten bewahren.
Selten wagte es ein Politiker, seine Ziele so offen auszusprechen. Aber dazu haben ihn die Eliten diesen Bürokraten schließlich hingeschickt. Bersani, der “Demokrat”, nickt devot, hält seine andere Wange hin, und wartet auf die neue Niederlage gegen Berlusconi, der offenbar die Wut der Bevölkerung besser begreift.
Aber das Zentrum ist “für Europa”, weil nur so die Kontrolle über das Volk gesichert ist. Jede wesentliche Entscheidung muss möglichst weit weg vom Volk getroffen werden, am besten in Brüssel.
Für uns ist dieser Zwiespalt zwischen intellektueller Aufgabe und politischer Gestaltung gegenwärtig allerdings eine platonische Debatte. Die Linke ist in den hoch entwickelten Ländern heute eine politische Randerscheinung.
Eine praktisch-politische Gestaltungs-Möglichkeit hat sie derzeit nirgends. Ihre wesentliche politische Funktion ist die konsequente Kritik des Bestehenden.
Anders gesagt: Die wesentliche Funktion der Linken heute ist die intellektuelle Alternative: Wir müssen vor allem darauf hinweisen, dass man überhaupt anders denken kann.
Das ist schwer genug. Gelingt das, dann hat Politik bereits begonnen.
Aber diese Distanz zur praktischen Politik hat auch andere Folgen, und die gilt es auszusprechen.
In den 1970er Jahren haben wir mit allen Kräften den Befreiungskampf in Vietnam unterstützt. Heute ist dort, in derselben Tradition ein Regime am Ruder, das schmutzigsten, ausbeuterischen Kapitalismus betreibt.
Alle sehen nach China, die Konservativen voll Bewunderung, einige wenige Linke voll Entsetzen: Einen Kapitalismus dieser Brutalität hat es in Europa allenfalls am Beginn des 19. Jahrhunderts kurz gegeben.
Und dabei vergessen wir, dass die vietnamesische Regierung in ihrem Land ganz und gar dasselbe Programm durchzieht. Es ist dasselbe Regime, dem vor vier Jahrzehnten unsere ganze Solidarität galt. Es hat halt zwischen durch seine Strategie geändert.
Jede Unterstützung für eine Regierung an der Macht läuft dieselbe Gefahr. Hugo Chavez, oder Rafael Correa stellen sich gegen die USA. Umso besser. Aber kein Grund, sich über sie Illusionen zu machen.
Ollanta Humala war kaum an der Macht, als er bereits mit der Verbrüderung mit den alten Eliten begann.
Und die Gruppe um Daniel Ortega in Nicaragua ist mittlerweile eine bürgerliche Korruptionisten-Partie.
Solchen Leuten soll man mit Sympathie begegnen? Um gegen die USA Stellung zu beziehen, muss man nicht für irgendwelche Machthaber sein.
Und Widerstandsgruppen gegen Diktatoren und ihre Regime? Es ist eine Sache, gegen ein schmutziges Regime zu sein.
Eine ganz andere Sache ist es, sich mit Gruppen zu liieren, die von noch schmutzigeren Kräften eingesetzt und instrumentalisiert werden.
Den Kampf um die Hegemonie werden wir nicht so schnell gewinnen. Aber das ist kein Grund, sich an die Brust irgend welcher Machthaber zu werfen, nur damit man das erhebende Gefühl kennen lernt, auch einmal auf der Seite der Gewinner zu stehen.
Gibt es irgendeine politische Wahrheit, dann ist es diese: Machthaber sind nie harmlos: Power corrupts…