Erste Phase: friedlich und antiinterventionistisch
Als die syrische Bewegung begann, hoffte man auf einen schnellen Sieg wie in Nordafrika. Aber Asad und sein Regime weigerten sich dasselbe Schicksal zu nehmen. Als vor einem Jahrzehnt die Macht dynastisch auf den Sohn übertragen wurde, wurden demokratische Reformen versprochen und Hoffnungen befeuert.
Doch der Herrschaftsapparat wollte nichts verändern. Und nun hoffte man wieder darauf, dass der Apparat angesichts des Drucks von unten einlenken würde. Doch daraus wurde wieder nichts.
Die einzig starke Erklärung für diese eklatante Unfähigkeit auf die demokratischen Forderungen einzugehen, liegt im konfessionellen Charakter des Regimes. Würde man sich des Asads und seines Clans entledigen, stände die allawitische Vorherrschaft vermutlich akut am Spiel.
Die syrische Bewegung selbst trug sehr ähnliche Charakteristika wie jede der anderen arabischen Länder. Sie wurde von denselben Milieus getragen und erhob dieselben Forderungen. Es bestand Konsens darüber friedlich zu bleiben, Konfessionalismus zu vermeiden und damit die Gefahr eines Bürgerkriegs erst gar nicht herauf zu beschwören – und natürlich eine ausländische militärische Intervention abzulehnen.
Westliches Zögern
Der Imperialismus und insbesondere Israel zögern bisher. Asad war und ist formal ihr Feind, aber ein berechenbarer und zahnloser. Die arabische Revolte erscheint dagegen unkalkulierbar und unkontrollierbar.
Eine direkte westliche Militärintervention wie gegen Libyen bleibt auch aus folgenden Gründen unwahrscheinlich:
Asad ist im Gegensatz zu Gaddafi ein ernst zu nehmender Gegner. Er verfügt neben der allawitischen Konfessionsgruppe auch über die Unterstützung der Wirtschaftselite, sowie der passiven Akzeptanz der wohlhabenden christlichen Minderheit. International weiß Asad nicht nur den Iran hinter sich, sondern auch die UN-Sicherheitsratsmitglieder Russland und China.
Ein Angriff unter diesen Bedingungen und zunehmender westlicher Schwäche könnte die globale Architektur ins Wanken bringen. Sie könnte Asad politisch sogar zur Hilfe gereichen, denn er könnte sich viel mehr als Gaddafi als Verteidiger der nationalen Souveränität gerieren. Ein Sieg so wie in Libyen ist keineswegs so sicher.
Ein Angriff könnte einen konfessionellen Bürgerkrieg auslösen und auf den Libanon übergreifen. War das im Irak anfangs die US-Strategie, so zeigten sich in der Folge auch die Nachteile für die US-Interessen. So knapp an der israelischen Grenze einen konfessionellen Bürgerkrieg mit ungewissem Ausgang zu provozieren, scheint für die USA nur als letzter Ausweg vernünftig.
Der US-Militärapparat bleibt überbeansprucht
Ohne den engen Verbündeten und das NATO-Mitglied Türkei ist weder militärisch noch politisch an einen Angriff zu denken. Aber Ankara kann es sich nicht leisten als Anhängsel des NATO-Imperialismus zu erscheinen. Sie wollen einer möglichen Intervention nicht nur ihren eigenen Stempel aufdrücken, sondern verfolgen auch eigene Interessen (siehe weiter unten).
Die Türkei selbst war der Architekt des Ausgleichs mit Damaskus und Teheran. Man stellte sich zwar generell auf die Seite der Volksbewegungen, doch wartete man zuerst einmal ab und gab Asad Zeit mit dem Problem umzugehen.
Ähnliches gilt für den anderen zentralen lokalen Verbündeten. Obwohl Saudi-Arabien die antiiranische Achse antreibt und daher gegen Asad steht, fürchtet sich Riad vor den Volksbewegungen noch mehr.
Man darf sich nicht dazu verleiten lassen, die bellizistische Position des westlichen Medienapparats mit jener der Staatskanzleien und Militärführungen zu verwechseln. Die Medienmaschine wurde zwei Jahrzehnte auf den “humanitären Imperialismus” eingeschworen.
Besonders übersteigert ist das im deutschsprachigen Raum, wo man militärisch meist bei den anglosächsischen Kriegsabenteuern nicht teilzunehmen pflegt, im moralischen Ausgleich dafür sich aber die Kriegslust und die Unterstützung für die USA von der Seele schreibt.
Natürlich bleibt eine allgemeine Deckung zwischen den Medien und der Politik der westlichen Regime. Aber es liegt in der Funktionsweise des Systems, das sich frei nennt, dass diese Kongruenz nicht total ist. So wird diese Differenz erklärbar.
Bisher beschränkt sich der Westen auf die Spirale von Sanktionen, um Asad in einen Kompromiss mit der Bewegung zu zwingen. Denn ein weiteres entscheidendes Problem für sie ist, dass sie unterschiedlich zu Libyen keine relevante proimperialistischen Kräfte in Syrien selbst an der Hand haben.
Die Türkei als zentraler Spieler und Modell
Für viele in der arabischen Welt stellt die Türkei ein nachzuahmendes Modell dar, insbesondere für die Moslembrüder. In einem gewissen Sinn nahm die AKP, die türkische Version der MB, den arabischen Frühling vorweg und kam damit der Volksrevolte zuvor.
1) Sie gewährten mehr demokratische Rechte und verbanden ein säkulares System mit dem Islam.
2) Sie ermöglichten eine sozioökonomische Entwicklung, ohne den Kapitalismus in Frage zu stellen. Noch mehr sie tasteten die wirtschaftlichen Interessen der kapitalistischen Elite nicht an.
3) Sie schlugen einen vom Westen mehr auf Unabhängigkeit bedachten Kurs (Iran, Gaza, usw.) ein, ohne mit der NATO zu brechen.
Für mehr als ein Jahrzehnt meisterte die AKP den Spagat den dringenden Forderungen des Volks entgegenzukommen und dennoch im Rahmen des imperialistischen Systems zu verbleiben.
So konnte jeder Ansatz revolutionärer Unruhen, wie sie die arabische Welt erschüttern, hint angehalten werden. Ob dieser Erfolgskurs beibehalten werden kann, steht auf einem anderen Blatt.
Trotz der mit Asad begonnenen Détente war klar, dass Ankara sich nicht gegen die syrische Volksrevolte stellen konnte. (Selbst der mit Asad verbündete Iran fordert von Asad Reformen, da auch Teheran die arabische Revolte nicht verstoßen will.) Die Türkei strebt eine Führungsrolle in der Region an.
Angesichts ihres Prestiges und ihrer Rolle als Vorbild ist niemand anderer als Ankara dazu geeignet den arabischen Frühling zu reiten. Das arabische Aufbegehren ist eine große Gelegenheit für die Türkei ihre neue Politik, die auch als Neo-osmanismus bezeichnet wurde, zu entfalten. In diesem Sinn kann Ankara kein Anhängsel der USA und der NATO bleiben, wie sie es jahrzehntelang unter der Herrschaft der laizistischen Generäle war.
Es geht darum die Unanhängigkeit und Selbstbestimmung der Region (unter türkischer Führung) zu sichern, ganz im Sinne einer multipolaren Weltordnung, wie sie die allgemeine Tendenz angesichts der zunehmenden Schwäche der USA ist.
Die politische Umarmung des arabischen Frühlings sowohl durch den Westen als auch durch die Türkei darf nicht als Deckungsgleichheit der Interessen verstanden werden. Vielmehr kann sie als Beleg für die potentielle Macht des Aufstands gewertet werden, um den für das Erste jeder herumzutänzeln versucht.
Jedenfalls versucht die Türkei mit ihrer Politik die USA und den Westen sanft aber bestimmt ein Stück weit aus der Region zu drängen.
Die türkische Intervention in die syrischen Ereignisse kann daher nicht die Form des NATO-Angriffs auf Libyen annehmen. Nicht umsonst war Ankara reserviert geblieben. Die Türkei muss sich anderer Methoden bedienen, wobei unklar wie diese aussehen könnten. Wie ist es möglich Asad zum Einlenken zu zwingen, ohne massives militärisches Eingreifen? (Ein solches könnte indes dem Traum von der türkischen regionalen Hegemonie ein jähes Ende bereiten, ohne dass er je Realität geworden wäre.)
Wie immer ein militärisches Eingreifen der Türkei auch aussehen könnte, es wird nicht das Ziel verfolgen, ein abhängiges, proimperialistisches Regime von des Westens Gnaden an die Macht zu bringen.
Natürlich bleibt die türkische Militärintervention von einer revolutionären antiimperialistischen Sicht abzulehnen, denn sie ist gegen diese Kräfte gerichtet. Ihr Ziel ist ein neo-osmanische Regime, das vermutlich die Moslembrüder im Zentrum hätte. Aber der Block Ankara-MB kann sich nicht offen gegen die demokratische Bewegung stellen, sondern will sich vielmehr als deren Instrument darstellen.
Eine türkische Intervention kann daher den demokratischen Charakter der syrischen Volksbewegung nicht vernichten, wenn auch die Kräfteverhältnisse verschieben. Daher muss die revolutionäre Bewegung alle Fürsprecher einer türkischen Intervention politisch angreifen, aber es ist kein Grund der Bewegung als ganzer den Rücken zu kehren oder gar auf die Seite von Asad zu wechseln. Solange die demokratische Revolte das treibende Element der Situation bleibt, müssen wir für deren Sieg kämpfen.
Das Asad-Regime
Nehmen wir einen Augenblick an, dass Asad-Regime würde tatsächlich versuchen Syrien vor der imperialistischen Übernahme zu schützen. Wichtigste Aufgabe dabei wäre die Unterstützung im Volk zu stärken, Konsens zu gewinnen, was unter den gegenwärtigen Bedingungen nur mit Zugeständnissen an die Forderungen der Volksbewegung möglich wäre.
Einige Fraktionen der Linken versuchten dem Regime die Rutsche zu legen und organisierten Dialog-Konferenzen. Doch diese ausgestreckte Hand wurde ausgeschlagen.
Einzige Antwort war fortgesetzte Repression. Alle Hoffungen auf Reform sind verflogen und die Massenbewegung kam zur allgemeinen Schlussfolgerung, dass der Sturz des Regimes eine unumgängliche Notwendigkeit ist.
Um unser Gedankenexperiment zu Ende zu bringen: Wäre das Regime in einem antiimperialistischen Kampf verstrickt, so setzte es Maßnahmen, die zur sicheren Niederlage führen. Die Interessen der Asad-Clique, die den allawitischen Gemeinschaftsgeist mobilisiert, stehen höher als jene des Antiimperialismus.
Ohne die Unterstützung wichtiger Sektionen der Unterklassen ist die Selbstverteidigung gegen den Imperialismus, unmöglich zumindest mittel- bis langfristig.
Unter gewissen Umständen ist Antiimperialismus indes tatsächlich auch gegen die Massen möglich, manchmal sogar über längere Zeiträume. Und Revolutionäre müssen solche Regime dann sogar gegen das imperiale Zentrum verteidigen. Aber in der jetzigen Konstellation gibt es einen dritten, entscheidenden Faktor, eine regionale Massenbewegung gegen die imperiale Ordnung.
Was wiegt schwerer? Die unzweifelhaften antiimperialistischen Aspekte des Regimes (Unterstützung für den libanesischen und palästinensischen Widerstand, Block mit dem Iran) oder das regionale demokratische und damit auch antiimperialistische Moment des Volksaufstands?
Es wird von Linken moniert, dass der syrischen Bewegung der soziale Aspekt abgehe. Wir haben den neoliberal-kapitalistischen Charakter der Eliten bereits ausgeführt.
Tatsächlich handelt es sich um eine Revolte der armen Klassen und der marginalisierten Regionen.
Doch die Repression lässt die politische Artikulation der sozialen Fragen unvermeidlich in den Hintergrund treten.
Mehr als die anderen arabischen Diktaturen insistiert Baath darauf, ein Garant des Säkularismus gegen die islamistische Gefahr zu sein. Doch der Anspruch bleibt rein formal. Die soziale Realität wird von Volk so erfasst, dass die wirtschaftliche und politische Macht sich in den Händen der allawitischen Gemeinde befindet. (Obwohl bei weitem nicht alle Allawiten davon profitieren.)
Indem Asad an der Macht festhält, gießt er Öl ins Feuer der konfessionellen Wahrnehmung. Noch mehr, er schürt die konfessionellen Ängste der Allawiten und Christen und versucht so ihr Schicksal an das seine zu binden. Er trägt so die volle Verantwortung dafür, das Land an den Rande eines konfessionellen Bürgerkriegs zu bringen, von dem letztlich der Imperialismus profitiert (siehe Irak). Er liefert auf diese Weise dem Westen und den Regionalmächten Argumente für ein militärisches Eingreifen.
Zweite Phase: Abgleiten in den Bürgerkrieg
Der Aufstand dauert nun schon fast ein Jahr an. Die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg sind verflogen. Oberflächlich könnte man von einer Pattsituation sprechen, denn wichtige Sektionen der Gesellschaft stützen Asad noch, zumindest passiv.
Zwei wichtige, mit einander zusammenhängende Änderungen sind zu bemerken: eine zunehmende Militarisierung des Konflikts und der wachsende Ruf nach ausländischem militärischen Eingreifen.
Man könnte erstaunt darüber sein, wie radikale syrische Linke auf friedliche Mittel bestanden. Denn die Lehre der Geschichte, dass Revolutionen ohne Waffengewalt zum Sturz der Elite im Allgemeinen zum Scheitern verurteilt sind, dürfte an ihnen nicht vorbei gegangen sein. Auch die aktuellen Ereignisse in Syrien scheinen diese Annahme zu bestätigen.
Doch die Erklärung der Position erschließt sich schnell: Denn desto gewalttätiger der Konflikt wird, desto konfessioneller wird er und desto mehr wird nach ausländischer Hilfe gerufen. Die liberalen, prokapitalistischen und auch zum sunnitischen Konfessionalismus tendierenden Kräfte suchen nach dem kürzest möglichen Weg.
Eine wirkliche Revolution, die auch tief in die soziale Ordnung eingreifen würde, wollen sie tunlichst umgehen. Das gilt insbesondere für die MB und ihre Unterstützer in der Türkei und am Golf. Aber auch die Volksmassen haben noch nicht die notwendigen politischen Erfahrungen gemacht, die eine tiefere, soziale Revolution als notwendig ausweisen würden
Indes hat die Repression friedliche Demonstrationen zu regelrechten Selbstmordkommandos gemacht. Hunderte wenn nicht tausende demokratische Aktivisten wurden getötet. Es gibt eine Grenze der Selbstaufopferung, an der die Bewegung zur bewaffneten Selbstverteidigung greift.
Hinzu kommt auch das – für eine Revolution notwendige – Phänomen der Massendesertion aus der Armee politisch ausgedrückt in der Bildung der “Freien Syrischen Armee” (FSA). Obwohl sie von offensiven Aktionen politisch Abstand nimmt, verschärft ihr Auftreten die Militarisierung.
Von einem revolutionären antiimperialistischen Standpunkt bleibt die Linie der Deeskalation richtig, auch wenn das Recht auf Selbstverteidigung gewahrt bleiben muss. Die Revolutionäre müssen sich Zeit geben, ihre politische Hegemonie vertiefen und die Konfessionsgrenzen überwinden, die politische Zersetzung der Armee vorantreiben und damit das Regime immer weiter politisch isolieren.
Vor allem aber müssen sie darauf bestehen, dass die Revolution auf ihren eigenen Füßen stehen kann und eine ausländische Intervention ablehnen. Geduld ist zwar nötig, es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass das Regime bereits stark unterspült ist und früher oder später stürzen wird.
Die Opposition und der Syrische Nationalrat (SNC)
Die syrische Opposition bleibt vielfältig. Die wichtigsten Auseinandersetzungen fanden über die Legitimität einer Auslandsvertretung und die Frage statt, ob ein Reformprogramm möglich sei oder der Sturz des Regimes angestrebt werden müsse. Dabei schwang in der einen oder anderen Form immer die zentrale Frage nach der Militärintervention und der Beziehung zum Westen und seinen Verbündeten mit.
Nachdem die Repression die Formierung einer politischen Vertretung der Opposition im Land selbst jedoch unmöglich machte, blieb nichts anderes als die Bildung Ausland übrig. Denn eine politische Repräsentation ist eine unumgängliche Notwendigkeit.
Doch die Warnungen der Kritiker stellten sich als nicht unberechtigt heraus. Die Kräfteverhältnisse außer Landes erwiesen sich als zu Ungunsten der sozialrevolutionären und antiimperialistischen Kräfte. Einzig die MB verfügen über ein wohlorganisiertes Netzwerk und feste Kontakte zu den westlichen Mächten. Doch die Tatsache, dass sie mit Burhan Ghalioun einen bekannten linken und antiimperialistischen Intellektuellen als Vorsitzenden nominierten, zeigt wie sehr sie auf die Linke angewiesen sind und reflektiert natürlich auch die Kräfteverhältnisse im Land.
Die MB allein werden als Führung nach wie vor nicht akzeptiert. Sie brauchen eine breitere Front.
Die antiimperialistischen Kräfte jedoch nach wie vor aktiv und vor Ort. Sie wehren sich heftig gegen die Forderung nach militärischer Hilfe von außen und üben entsprechend politischen Druck aus.
Der SNC scheint dem Druck zur ausländischen Intervention tendenziell nachzugeben, wenn auch dosiert und vorsichtig, was die laufenden Auseinandersetzungen über die Frage widerspiegelt. Er ruft zur politischen Isolierung des Regimes, zu Sanktionen und zu Schutzzonen auf. Doch wie können Schutzzonen installiert werden? Einzig mit ausländischem militärischen Eingreifen.
Heißt das, dass der SNC zum Instrument der Türkei oder des Westens geworden ist? Sind sie gar Verräter? Uns scheint, dass der SNC nicht wie die libyschen Anti-Gaddafi-Kräfte kapituliert hat. Sie versuchen in begrenzter Weise insbesondere türkische Machtprojektion zu benutzen, ohne dabei das Heft aus der Hand zu geben. Doch ist das möglich?
Beobachten wir nur Schritte einer Eskalation die unausweichlich zu einem libyschen Szenario führen werden? Wie unterscheidet sich eine neo-osmanische Linie davon?
Szenarien nach Asad
Wir halten ein Szenario für möglich, dass mit begrenztem türkischen Eingreifen in Damaskus ein Regime an die Macht kommt, das in gewisser Weise jenem in Ägypten und Tunesien ähnelt, auch wenn die Erschütterung und Aufwühlung in Syrien viel tiefer ist. Es wird den Forderungen der Massenbewegung stark nachgeben und demokratische Rechte einräumen müssen.
Es könnte sogar die heute paradox erscheinende Situation eintreten, dass die Türkei im Sinne der Stabilisierung Teile des alten Regimes zu retten versuchen wird, die sonst von den Revolutionären hinweggefegt werden würden. Das was mittels der Selbstenthauptung der Regime in Ägypten und Tunesien durch die alten Eliten aufzufangen versucht wurde, wird in Syrien möglicherweise unter Einmischung der Türkei von statten gehen.
Warum könnte ein solches Szenario bei der Volksbewegung auf Akzeptanz stoßen? Diese sucht nach dem einfachsten, dem am wenigsten kostspieligen Weg ihre Interessen durchzusetzen – zumindest entsprechend ihrer Wahrnehmung.
Die Türkei wird nicht als westliche, imperialistische Macht betrachtet. Ankara vermarktet sich als bruchlose, sanfte Alternative zum Imperialismus.
Stellen wir einen Vergleich mit Ägypten an: Am Nil haben die Massen nach dem Sturz Mubaraks die Macht den Moslembrüdern anvertraut, die sie ihrerseits wieder an das Militär aushändigten. Erst nach einem halben Jahr gelang es dem Tahrir seine Stimme dagegen zu erheben, ohne dass die Generäle bisher abgetreten wären. Ist das ein Grund die revolutionäre Bewegung für gescheitert zu erklären?
Der revolutionäre Prozess steht ganz an seinem Anfang. Und die Menschen können nur aus Erfahrungen lernen. Vielleicht müssen sie das türkische Angebot ausprobieren, um es zu überwinden. Wir glauben nicht, dass es für die arabische Welt gangbar ist. Einerseits sind die wirtschaftlichen Vorbedingungen schlechter, andererseits sind die arabischen Massen bereits in Bewegung versetzt und können nicht so ohne weiters demobilisiert werden.
Bei all den Erwägungen sollte nicht vergessen werden, dass es wie in Tunesien und Syrien eine breite demokratische und soziale Massenbewegung gibt und innerhalb dieser ein sozialrevolutionäres antiimperialistisches Milieu Wurzeln geschlagen hat und zumindest teilweise den Takt angibt. Die Türkei versucht natürlich dieses zurückzudrängen, aber ausrotten wird sie es nicht können. Der Volksbewegung wird weiterhin eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle zukommen.
Das heißt nicht, dass wir dieses Szenario wünschen oder unterstützen. Diese Linie, die letztlich auch jene des SNC ist, muss kritisiert werden. Die Revolutionäre müssen darauf bestehen, dass die Revolution auf ihren eigenen Füßen steht. Die allerbeste Variante wäre ein Sieg der Bewegung ohne ausländisches Eingreifen.
Muss die Unterstützung für die Bewegung und insbesondere für die sozialrevolutionären antiimperialistischen Kräfte eingestellt werden, wenn das neo-osmanische Szenario eintritt?
Ist dann Neutralität und gar Unterstützung Asads angesagt? Die Bewegung aufzugeben ist jedenfalls der sicherste Weg, sie in die türkischen Arme zu treiben. Solange die Bewegung ein selbständiger Faktor bleibt, zu keinem bloßen Anhängsel der Türkei degradiert wird, muss für sie und um sie gekämpft werden, denn nach Asad ist die Auseinandersetzung noch lange nicht zu Ende.
Es kann indes nie gänzlich ausgeschlossen werden, dass der Imperialismus direkt eingreift. Dann muss die Situation neu beurteilt werden.
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