D ie Intervention der NATO in Libyen wird voraussichtlich eine noch vermehrt militarisierte und unsichere Welt zur Folge haben, und das wird ihr dauerhaftestes Vermächtnis sein. Der militärische „Erfolg“ in Libyen hat die Möglichkeit neuer Kriege gestärkt. Es gibt die weit verbreitete Auffassung, dass die NATO einen leichten Sieg gegen Gaddafi errungen hat, und das daraus resultierende Gefühl des Übermuts vergrössert das Risiko zukünftiger militärischer Aktionen gegen Iran, Syrien und andere mögliche Ziele.
Zweifelsohne begrüssen Politiker in NATO-Ländern die Ablenkung der Öffentlichkeit durch Krieg, besonders in Zusammenhang mit dem weltweiten wirtschaftlichen Abschwung, und das könnte sich als zusätzliche Motivation für neue militärische Aktionen erweisen.
Und der Erfolg in Libyen wird zu höheren Stufen für Militärausgaben führen. Das britische Militär benutzte die Intervention bereits als Argument für eine Budgetsteigerung, das Gleiche wird zweifelsohne auch in Frankreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika stattfinden, wo die Intervention den jeweiligen Militär-Komplexen der Länder politischen Nutzen bringen wird.
Ausgehend von den beschränkten Mitteln werden die relativ höheren Ausgaben für Militär, die aus dieser Situation resultieren, wahrscheinlich die Mittel verringern für Bildung, Gesundheit, Umweltschutz und Seuchenbekämpfung, auch für Hilfe an Entwicklungsländer, darunter auch Libyen.
Eine weitere Folge der Intervention ist die Erosion des Internationalen Rechts, die sich manifestiert in der Nichtbeachtung der UNO-Charta und im Kriegsermächtigungsgesetz der Vereinigten Staaten von Amerika, die sich offen im Zuge der Bombenkampagne und der Anstrengungen, einen Regimewechsel herbeizuführen über die bestehende Rechtslage hinwegsetzten.
In früheren Zeiten hätten die Liberalen in den Vereinigten Staaten von Amerika wohl den unkontrollierten Einsatz der exekutiven Gewalt kritisiert, den die Obama-Administration vorführt. Derlei Bedenken sind jedoch eine Sache der Vergangenheit. Mit Libyen haben die Liberalen sich mit einer „imperialen Präsidentschaft“ ganz und gar zufrieden gezeigt.
Weiters bedeutet die Intervention einen Rückschlag für die internationale Zusammenarbeit, die die Einschränkung der Verbreitung von Atomwaffen zum Ziel hat: die Entscheidung der NATO, Gaddafi zu stürzen, nachdem er einverstanden war, sein Programm zur Entwicklung von Atomwaffen einzustellen, wird mit Sicherheit andere Länder wie Nordkorea davon abhalten, Gaddafis Fehler zu wiederholen.
Die Bedeutung der Intervention wird weit über Libyen selbst hinausreichen, und es ist diese höhere Ebene von Auswirkungen, die die gefährlichste Auswirkung der Intervention darstellt. Niemand denkt gerne an die langfristigen Konsequenzen politischer Handlungen, besonders wenn „Sieg“ im Spiel ist, aber diese langfristigen Konsequenzen werden bleiben wie gehabt und die internationale Sicherheit wird als Ergebnis in Mitleidenschaft gezogen werden.
Auswirkungen auf das Land Libyen
Wenden wir uns nun den Auswirkungen des NATO-Sieges auf Libyen und seine Menschen zu. Derzeit scheint das Ergebnis unsicher, da die Faktenlage mehrdeutig ist. Einerseits hat der Nationale Übergangsrat (NTC) volle Kontrolle über das Land erreicht und bisher das Chaos vermieden, das viele befürchtet hatten.
Andererseits bleibt die Situation instabil, wie sich in den häufigen Zusammenstößen rivalisierender Milizgruppen zeigt, die um die Kontrolle über Tripoli und andere Gebiete kämpfen.
Die NATO-Intervention selbst kann ein Problem für die zukünftige Stabilität bilden. Nachdem das neue Regime die Macht mittels Unterstützung von aussen erreicht hat, ist es anfällig für Vorwürfe, dass es das Ergebnis fremder Intervention ist.
Es stimmt, dass die NATO-Mächte zumindest unter denjenigen Libyern einigen Zuspruch erhalten werden, die den Sturz Gaddafis betrieben haben, aber diese Unterstützung wird mit der Zeit verblassen, wenn der traditionelle und tief verwurzelte Antikolonialismus des libyschen Volkes sich wieder Geltung verschafft.
Im Grossen und Ganzen gibt es wenig in der Geschichte Libyens, was auf ein glückliches Ende hinweisen würde. Das Land ist zusammengesetzt aus über hundert eigenständigen Stammesgruppen, mit einer zusätzlichen Trennlinie zwischen den östlichen und westlichen Teilen des Landes, die zurückgeht in die Zeit der ottomanischen Herrschaft. Parlamentarische Demokratie hat es so gut wie noch nicht gegeben.
Die einzige nationale Einheit, die das Land je erreicht hat, ist weitgehend die Schöpfung Muammar Gaddafis.
Niemand sollte den Sturz Gaddafis betrauern, der (ungeachtet einiger Errungenschaften) im Grund eine zwielichtige und grössenwahnsinnige Figur geblieben ist. Die Frage ist, ob das neue Regime sich als besser – oder schlechter – erweisen wird als das vorhergehende.
Da gibt es verschiedene mögliche Varianten. Die neue Regierung könnte sich als relativ anständige und stabilisierende Kraft erweisen, die den Menschen Libyens eine bessere Lebensqualität bietet, als sie unter der Diktatur Gaddafis hatten.
Vielleicht werden sie sogar eine Form von repräsentativer Demokratie erreichen, mit unabhängiger Rechtssprechung und Respekt für die Autonomie des Individuums. Jeder vernünftige Mensch würde sicher auf ein solches Ergebnis hoffen. Aber das wird´s kaum spielen. Ein plausibleres Szenario ist, dass die Zentralregierung auseinanderfallen wird, was einen neuerlichen Bürgerkrieg zwischen den östlichen und westlichen Regionen auslösen wird.
Alternativ dazu könnte es zu einem allgemeinen Absturz ins Chaos kommen, ohne klare Frontlinien, ähnlich dem, was in Somalia 1991 nach dem Sturz der Regierung Siad Barre geschah.
Das wahrscheinlichste Szenario wird vielleicht eine schwache und korrupte libysche Zentralregierung beinhalten, die nominell herrscht inmitten von regionaler Instabilität, wirtschaftlichem Verfall und wachsendem sozialen Elend. Früher hätten die Mächte des Westens vielleicht ein Hilfsprogramm im Stil des Marshallplans zusammengestellt, um den Erfolg der neuen Regierung zu gewährleisten.
Solche Programme sind allerdings weitgehend aus der Mode gekommen und erscheinen derzeit überhaupt unwahrscheinlich, geht man von den sparsam eingestellten Regimes in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika aus.
Die NATO-Mächte werden sich sicher gegenseitig gratulieren, dass sie die Bombenkampagne finanziert haben, werden aber kaum genügend Geld für den Wiederaufbau des Landes auftreiben. Einfach gesagt wird das am ehesten wahrscheinliche Ergebnis ein Libyen sein, das sich in einem noch viel schlechteren Zustand befindet als vor dem Sturz Gaddafis.
„Humanitäre“ Interventionen
Es besteht also eine reale Gefahr, dass die NATO-Intervention in Libyen zu einer Verschlechterung der Situation der Menschen in Libyen führen wird. Die vorgeblichen Bemühungen bei humanitären Interventionen haben in der Vergangenheit sicher die Dinge verschlimmert.
Man nehme nur die Interventionen in Irak und Afghanistan, die beide regiert worden waren von Regimes, die noch repressiver waren als das Gaddafis und abstoßender in moralischer Hinsicht. Interventionen des Westens stürzten beide Regimes, und sie taten das mit der Unterstützung von vielen von den gleichen Intellektuellen, die vor kurzem den Sturz Gaddafis unterstützten. Die Ergebnisse waren katastrophal.
Angesichts der Invasion in den Irak 2003 lieferte Juan Cole folgende Unterstützung: „Ich bin weiterhin überzeugt, dass ungeachtet der Bedenken, die man danach haben könnte, die Entfernung Saddam Husseins und des mörderischen Baath-Regimes von der Macht die Opfer wert sein wird, die von allen Seiten zu bringen sein werden.“
Es tut weh, diese Art von Quatsch jetzt zu lesen, fast ein Jahrzehnt später, und man fragt sich nach Coles Urteilsfähigkeit. Die seinerzeitige Beurteilung des Irakkrieges ist es wert, im Lichte der neueren Schriften Coles zu Libyen ins Gedächtnis gerufen zu werden, in denen er neuerlich eine Intervention befürwortete.
Generell besteht eine Tendenz zu der Annahme, dass Interventionen mit der Bezeichnung „humanitär” immer zu positiven Ergebnissen führen müssen. Das ist eine weit verbreitete Meinung und wird popularisiert durch Samantha Powers einflussreiches (schlecht recherchiertes) Buch A Problem from Hell (Ein Problem aus der Hölle).
In der Geschichte gibt es allerdings kaum etwas, was diese Auffassung unterstützt. In der Tat verschlimmern militärische Interventionen typischerweise humanitäre Situationen im Vergleich zu davor und verbessern sie nicht, was dramatisch illustriert wird durch die Hunderttausenden Getöteten, die das Ergebnis der Interventionen in Irak und Afghanistan waren.
Und entgegen den Märchengeschichten verschlimmerten auch die vorhergehenden Interventionen in Bosnien und Kosovo die humanitären Krisen in diesen Gebieten, was gut dokumentiert, wenn auch wenig bekannt ist.
Erstes Gebot: Richte keinen Schaden an!
In der Medizin müssen die Ärzte unerwünschte Ergebnisse in Betracht ziehen, ehe sie tätig werden – „Richte keinen Schaden an“ ist der Grundsatz für ihr Vorgehen. Wir können nicht alle Probleme lösen, aber das mindeste, was wir tun können, ist eine schlimme Situation nicht durch rücksichtslose oder schlecht überlegte Interventionen zu verschlimmern.
Dieses Prinzip findet Anerkennung in Bezug auf medizinische Interventionen, warum sollte es also nicht genauso angewendet werden bei militärischen Interventionen, eingeschlossen diejenigen mit der Etikette „humanitär“?
Zu guter Letzt müssen wir die Auswirkungen des Libyen-Intervention auf die liberale Linke bewerten. Diese Intervention zeigt die Aufgabe ihrer traditionellen Friedensposition durch die Liberalen. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich viele Liberale in einer Weise für militärische Gewalt begeistert, die sich nicht von den reaktionärsten und hurrapatriotischsten Elementen der Rechten unterscheidet.
Seien wir ehrlich und nennen wir die Dinge bei ihrem richtigen Namen: die Bewegung für humanitäre Intervention – in Bezug auf Libyen, Darfur, Irak und den Balkan – war schon immer eine Bewegung für den Krieg, denn Krieg ist es, wovon wir hier wirklich reden.
Was den Ton betrifft, so verkörpern die liberalen Interventionisten viel von der Hässlichkeit, die mit militaristischen Bewegungen die Geschichte hindurch in Verbindung gebracht wurde, einschliesslich ihrer Haltung moralischer Selbstgerechtigkeit, ihrer Neigung, abweichende Meinungen zu verteufeln und ihrer unbekümmerten Geringschätzung der Risiken von militärischen Einsätzen.
Da gibt es auch ein bemerkenswertes Vertrauen in die guten Absichten von Militär, Regierung und Koordinationsfunktionären der intervenierenden Mächte, verbunden mit der Weigerung, das Eigeninteresse zu bedenken, welches diese Figuren für die Durchführung von Intervention haben.
Heutzutage ist Kriegshetze nicht länger auf politisch Konservative beschränkt. Auch Liberale können sich der Spannung und des Gefühls der moralischen Erhabenheit durch die Befürwortung des Kriegs erfreuen – aber ohne das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Konsequenzen ihres Dafürseins.