E s beginnt mit einer gewöhnlichen Szene – kommentarlos betrachtet der Zuschauer Jugendliche in einem Park. Die Szene endet, als ein Jugendlicher einen anderen mit einem Stock schlägt und verletzt. Von nun an spielt der Film Der Gott des Gemetzels (2011) von Roman Polanski gemäß des klassischen griechischen Theaters an einem Ort, in einer Zeit und dreht sich um eine Handlung.
Dies verstärkt den Eindruck, dass der Zuschauer einen typischen, alltäglichen Ausschnitt aus dem „echten“ Leben präsentiert bekommt. Nancy und Alan Cowan (Kate Winslet und Christoph Waltz), die Eltern des „Täters“, sind zu Gast bei Penelope und Michael Longstreet (Jodie Foster, John C. Reilly), den Eltern des „Opfers“.
Von der Fassade des homo sapiens et pacalis …
Man hat sich versammelt, um – wie Penelope es mehrmals betont – gewaltlos, zivilisiert und vernünftig wie Erwachsene den Vorfall zu klären. Der Umgang miteinander ist zwar höflich, es werden mehrmals die entsprechenden Entschuldigungen und Äußerungen des Bedauerns ausgetauscht, aber die Atmosphäre ist verkrampft und angespannt.
Klar ist: diese Paare sind nicht auf einer Wellenlänge, würden freiwillig nie etwas miteinander zu tun haben. Man ist sich fremd. Die Cowans wollen so rasch wie möglich aufbrechen, aber erste aufbrechende Spannungen führen sie wieder zurück in die Wohnung der Longstreets. Letztere sehen sich als die typischen Gutmenschen. Sie glauben daran, dass der moderne Mensch der höchste Ausdruck der Zivilisation sei. Sie selbst an der Spitze.
Man ist ein bisschen öko, ist besorgt um die Verletzung der Menschenrechte und die Gewalt auf der Welt, die man „daheim“ in der „zivilisierten 1.Welt“ bereits hinter sich gelassen habe. Auch die Cowans sind anfangs darum bemüht, Anstand, Verständnis und Bedauern zu zeigen, schließlich ist dieser gewalttätige Ausrutscher ihrem Sohn passiert. Außerdem wollen sie dieser unangenehmen Lage so rasch wie möglich entkommen.
… zum Fallenlassen der Masken
Die mit Mühe und Not gespielte Vernunft und Einsicht der Ehepaare kippt nur allzu schnell. Auf herrliche und komische Weise geraten die Ehepaare aneinander. Ehe man sich versieht, geht man sich verbal an die Gurgel und lebt mit Freude seine Aggressionen nicht nur gegen das andere Ehepaar, sondern vor allem gegenüber dem eigenen Ehepartner aus.
Schon bald kreisen die Dialoge nicht mehr um die Söhne und die Gewalttat. Die vier Erwachsenen halten sich gegenseitig schonungslos den Spiegel vor, reißen mit Lust die mühsam aufgebaute Fassade der Anderen ein. In diesem verbalen Gefecht werden mehrmals die Seiten gewechselt, Zweckbündnisse eingegangen, aber stets mit einem einzigen Ziel: die Zerstörung des Selbstbildes des Anderen.
Die unterdrückte Unzufriedenheit mit sich, seinem Leben und dem Angekettet-Sein an seinem Ehepartner bricht heraus. Dieser Wandel wird von den Schauspielern vorzüglich dargestellt. Aus den gepflegten, gestylten und strengen Gesichtern werden verzerrte Monster: hysterisches Lachen, hervortretende Adern und rot angelaufene, vor Wut schäumende Gesichter.
Alan bringt es auf dem Höhepunkt des Konflikts auf den Punkt: „Ich glaube an den Gott des Gemetzels“. Jetzt, wo dies offen ausgesprochen ist, werden auch die letzten Hemmnisse fallengelassen: Offen verabschiedet man sich von jeglicher Moral und Ethik. Jeder kann und soll nur sich vertrauen.
So unvermittelt der Zuschauer in diese Situation hineingestoßen wurde, so unvermittelt wird der Zuschauer wieder ausgeschlossen. Am Ende sitzen die vier ach so zivilisierten Erwachsenen um den Wohnzimmertisch, stumm und erschöpft vor den Trümmern ihres Lebens. Die Katharsis (Reinigung/Klärung) des klassischen Theaters bleibt uns verwehrt. Ohne weitere Erläuterung sieht man im Epilog erneut den Park mit den Jugendlichen. Man sieht die beiden Söhne, wie sie miteinander sprechen und sich wieder gut verstehen.
Der Film ist großes Kino, genauer gesagt großes Theater, da der Film auf Yasmina Rizas erfolgreichem Theaterstück Le dieu du carnage basiert. DER TAGESSPIEGEL sieht neben dem Film „Der Gott des Gemetzels“ eine allgemeinere Tendenz zu solchen Themen: „2011 ist das Jahr, in dem die Kunst und das Kino, die Literatur und das Theater die Räume eng machten. Eine Saison voller Kammerspiele und Nabelschauen. Die Welt steckt derart in der Krise, dass einem bang werden kann. Da bleibt man zu Hause, kapselt sich ab, duckt sich weg.“ (Tagesspiegel, 01.01.2012)
Vom Konkreten…
„Der Gott des Gemetzels“ liefert uns mittels Introspektion in der Tat einen Mikrokosmos unserer heutigen kapitalistischen Welt und offenbart uns so einige fundamentale Widersprüche dieses Systems. So urteilt der TAGESSPIEGEL: „Es ist was faul im Staate, und die schönen Künste gehen zurück zu den Wurzeln, leisten weniger politisch-strukturelle als psychologische Ursachenforschung.“
Denn wer ist der Gott des Gemetzels, dem anfangs nur Alan, schließlich aber alle im Film folgen? Der Gott ist das Geld, der Profit, dem im Kapitalismus alles andere untergeordnet wird. Menschlichkeit und Gerechtigkeit wird nur da gewährt, wo man es sich leisten kann.
Sie sind aber nicht fundamentale Prinzipien des Kapitalismus, sondern nur schmückendes (und ersetzbares) ideologisches Beiwerk.
Die heutige Produktionsweise ist nicht den menschlichen Bedürfnissen, sondern allein dem Profit untergeordnet. Dies wird exemplarisch an Alan deutlich. Er führt bei den Longstreets alle fünf Minuten Telefonate mit seinem Büro. Er ist Anwalt für eine Arzneifirma. Es sind Gerüchte im Umlauf, dass ein Medikament gesundheitsgefährdend ist. Er erfährt indessen, dass der Firma die erheblichen Nebenwirkungen des Medikaments seit zwei Jahren bekannt waren, es aber weiter verkauft hat.
Dann ist seine Strategie für die Firma klar und er schreit ins Handy: Leugnen, leugnen. Das Überleben des Produktes muss in jedem Fall gewährleistet werden.
Daran hängt das Überleben der Firma und letztlich auch sein Arbeitsplatz; auch wenn die Gesundheit unzähliger Menschen wissentlich zerstört wird. So herrscht das Tote über das Lebendige.
Pikant wird die Situation, als sich herausstellt, dass die Mutter von Michael eben dieses Medikament einnimmt. Nun bekommen die abstrakt wahrgenommenen und dem Profit geopferten Menschen ein konkretes Antlitz.
Alan sieht sich gezwungen, Michaels Mutter zu empfehlen zumindest vorübergehend das „völlig unbedenkliche“ Medikament abzusetzen. Welch eine Doppelmoral!
Einerseits predigen uns die Herrschenden, wir lebten in einer Gesellschaft der Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit, geleitet vom obersten Prinzip – dem Gott der Vernunft. Tatsächlich aber ist der Kapitalismus ein unmenschliches und brutales, weil unpersönliches Ausbeutungsverhältnis. Der Profit geht über alles.
Ist die Gesellschaft therapierbar bzw. revolutionierbar? In dem Mikrokosmos, den Polanski uns vorführt, bleibt die Frage offen. Auf der Ebene der gesamten Gesellschaft, sprich: des Makrokosmos‘, sagen die Marxisten: Das Potenzial ist da.
… zum Allgemeinen
Einst äußerte Karl Marx die These, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben; es komme aber drauf an, sie zuverändern. Der Marxismus ist eine wissenschaftliche Methode, mittels derer man die Welt besser verstehen kann.
In der Wissenschaft sucht man nach allgemeinen Tendenzen und Prinzipien, nach einer abstrakten Einheit der Welt.
Mit der Kunst ist es nun gerade andersherum. Sie betrachtet das Spezielle, ist subjektiv und erhebt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, und doch ist die Kunst ein zentraler Bestandteil des menschlichen Seins, denn, wie Rosa Luxemburg es beschrieb, ist neben der Sprache die Kunst ein Eckpfeiler menschlicher Existenz, ist „…nichts anderes als Verkehrsmittel, Verständigungsmittel zwischen den Mitgliedern derselben menschlichen Gesellschaft.” (Rosa Luxemburg: Die Menge tut es)
Auch Engels erkannte die Bedeutung der Kunst, als er 1888 an Harkness schrieb, dass er durch die Romane Balzacs das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft weitaus besser verstanden habe als durch die anerkannten Historiker oder Ökonomen seiner Zeit.
Somit ergänzt die Kunst die Wissenschaft im menschlichen Anliegen des Begreifens.
In diesem Sinne ist der Film Der Gott des Gemetzels von Roman Polanski gleich mehrfach sehr sehenswert: Der Film ist sehr unterhaltsam, weil wir uns in ihm wiederfinden, denn wir begreifen, dass wir alle unvollkommen sind, sowohl fähig zur Liebe als auch zur Aggression.
Der Film ist komisch, denn wir lachen nicht nur über die Longstreets und Cowans, sondern auch über uns selbst.
Zudem ist der Film lehrreich, denn er hält uns den Spiegel vor und zeigt uns, wie dünn einerseits die Schicht unserer Zivilisation ist, andererseits aber auch, wie notwendig echte Menschlichkeit und Solidarität sind, wenn wir nicht dem Gott des Gemetzels, sprich: dem Kapitalismus zum Opfer fallen möchten.