I m größten deutschen Sozialgericht hält die Klageflut weiterhin an. Die Präsidentin des Berliner Sozialgerichts, Sabine Schudoma, erklärt, dass noch im Januar die 150.000. Hartz-IV-Klage seit Inkrafttreten des Arbeitsmarktgesetzes vor sieben Jahren eingehen werde.
Klageflut reißt nicht ab
Bei der Vorstellung der Jahresbilanz 2011 wies die Gerichtspräsidentin daraufhin hin, dass die Zahl der eingereichten Verfahren (43.832) zwar fast identisch mit der Zahl im Vorjahr wäre (2010 43.951), der Berg an unerledigt Verfahren aber dennoch weiter wachse. “Das bringt uns an die Grenze der Belastbarkeit”, so Schudoma während der Vorstellung der Jahresbilanz.
“Inzwischen sind es schon mehr als 40.000 offene Verfahren.” Hauptsächlich handele es ich um Hartz IV-Fälle. Im Vergleich zum Jahr 2005 habe das Sozialgericht seine Richterstellen aus gegebenem Anlass mehr als verdoppelt – von 55 auf 127 Stellen. Schudoma weiter: “Dennoch müssten wir das Sozialgericht ein Jahr schließen, um diesen Berg abarbeiten zu können.”
Großteil der Klagen stammt von Hart IV-Empfängern
Etwa 70 Prozent aller eingehenden Klagen am Sozialgericht betreffen Hartz IV-Fälle. Die Gerichtspräsidentin überrascht dies nicht: “Unzählige Änderungsgesetze und die große Hartz-IV-Reform vom Januar letzten Jahres haben nichts geändert. Die Hartz-IV-Klageflut trifft uns weiterhin mit voller Wucht.”
Das Gericht hielt im Jahr 2005 6950 Einwände. Bis 2008 steigerte sich die Zahl tatsächlich auf 21.510 Fälle. Der Höchststand von 2010 mit 31.776 Verfahren wurde im vergangenen Jahr mit 30.735 jedoch nicht erreicht.
Schudoma erläutert, dass dies zwar ein leichter Rückgang sei, aber noch keine Trendwende einläute. Die Situation bleibe für das Sozialgericht schwierig.
Klagen von Hartz IV-Betroffenen in der Regel berechtigt
Schudoma berichtet weiter, dass man trotz der großen Anzahl nicht von einer Klagewut sprechen könne: “Kein Kläger bläst zum Angriff auf das Sozialsystem.” Immerhin seien 54 Prozent der beim Sozialgericht eingehenden Klagen bezüglich Hartz IV-Leistungen mindestens teilweise berechtigt gewesen.
Die Erfolgsquote der Kläger sei in anderen Bundesländern nur ein gutes Drittel. Auch die Bearbeitungszeit der Verfahren sei in Berlin geringer. Schudoma berichtet von durchschnittlich knapp zehn Monaten, was bundesweit dem Spitzenplatz bei der Verfahrensdauer entspreche.
Wenn es “um das abwenden einer akuten Notlage” gehe, würden entsprechenden Eilverfahren innerhalb eines Monats erlegt.
Gerichtspräsidentin hofft auf Verbesserungen durch neuen Berliner Senat
Da die Jobcenter in Berlin immer noch mit einer Tabelle zur Berechnung der Wohnkosten agieren müssen, die bereits im Oktober 2010 vom Bundessozialgericht als rechtswidrig eingestuft wurde, betreffe der Großteil der Klagen von Hart-IV-Empfängern die Kosten der Wohnung, berichtet Schudoma.
Die Gerichtspräsidentin setzt große Hoffnung in den neuen Senat. Dieser müsse “nun transparente, sozial ausgewogene und praxistaugliche Mietgrenzwerte” erstellen. Ein entsprechender Vorschlag des Berliner Sozialgerichts wurde bereits eingereicht.
Entlastung der Gerichte durch Jobcenter möglich
Viele der Klagen von Hartz IV-Betroffenen beziehen sich laut Schudoma auf die Nichteinhaltung gesetzlich festgelegter Bearbeitungsfristen, denn in den Jobcentern kämen die Mitarbeiter nicht mehr mit ihrer Arbeit hinterher.
“Wir bekommen von den Jobcentern leider allzu oft die Antwort, dass es aufgrund von Personalmangel derzeit zu Verzögerungen komme”, sagt die Gerichtspräsidentin. Als Folge davon wenden sich betroffene Bürger vertreten durch ihre Rechtsanwälte direkt an die Gerichte. “Statt Rechtsfragen zu lösen, wird das Gericht zum Mahnbüro. Die Überforderung der Jobcenter führt zur Überlastung der Gerichte. Und die Zeche zahlt der Steuerbürger”, erklärt Schudoma.
Generell müssten die Jobcenter die Gerichte mehr entlasten. Als Beispiel führt die Präsidentin des Berliner Sozialgerichts die Widerspruchsverfahren an, bei denen dem Bürger die Möglichkeit gegeben werde, direkt beim Jobcenter gegen eine seiner Meinung nach falsche Entscheidung vorzugehen.
Widerspruchsverfahren gehen einem Gerichtsverfahren zwingend voraus. Jedoch berichtet Schudoma, dass diese Verfahren häufig nur pro forma, ohne eine Klärung abliefen: “Viele Klagen wären vermeidbar, wenn Betroffene und Behörden bereits während des Widerspruchverfahrens ein klärendes Gespräch führen würden. Doch viel zu oft sitzt man erst im Gerichtssaal an einem Tisch.”