Prof. Moshe Zuckermann: Die Vorwürfe gegen Augstein sind idiotisch

Einstufung Augsteins als Antisemit ist dermaßen idiotisch, dass man darüber eigentlich nur noch - freilich angewidert - lachen kann

- von Prof. Dr. Moshe Zuckermann  -

D ie Debatte über den als „Antisemiten“ angeprangerten Verleger Jakob Augstein spitzt sich weiter zu. Susann Witt-Stahl sprach für Hintergrund mit dem israelischen Historiker Moshe Zuckermann über die „paranoiden Syndrome“ von Augsteins Diffamierern, „die Elite“ als Antisemitismus-Bekämpfer, den jüdischen Fundamentalismus und die Möglichkeit eines Endes der Gewalt im Nahen Osten.

Die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Simon-Wiesenthal-Zentrum hat den Journalisten und Herausgeber der links-liberalen Wochenzeitung Freitag, Jakob Augstein, in einer Rangliste der zehn schlimmsten Antisemiten der Welt auf Platz neun gesetzt.

Als Begründung für ihre Entscheidung führt die nach dem Holocaust-Überlebenden und Nazi-Jäger Simon Wiesenthal benannte Organisation israel-kritische Aussagen Augsteins an. Der 45-jährige Publizist habe sich der Einschätzung des Literatur-Nobelpreisträgers Günter Grass angeschlossen, die Atommacht Israel sei eine Gefahr für den Weltfrieden.
Zudem habe Augstein illegitimerweise die ultraorthodoxen Juden in Israel mit Islamisten verglichen, so die zentralen Vorwürfe.

Augstein hatte in einer seiner Spiegel-Kolumnen daran erinnert, dass es auch jüdischen Fundamentalismus gibt. In bestimmten Gegenden Israels werde „eine Frau als Hure beschimpft, wenn sie im Bus vorn bei den Männern sitzt. Und es gibt Menschen, die bespucken ein kleines Mädchen auf dem Weg zur Schule, weil es falsch gekleidet ist.“
Die Ultraorthodoxen seien „keine kleine, zu vernachlässigende Splittergruppe. Zehn Prozent der sieben Millionen Israelis zählen dazu. Benjamin Netanjahu hat in seinem Kabinett Mitglieder gleich dreier fundamentalistischer Parteien sitzen“, nannte Augstein harte Fakten. „Diese Leute sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre islamistischen Gegner. Sie folgen dem Gesetz der Rache.“ [1]
Außerdem hatte Augstein behauptet, dass die Hamas nicht allein für die wiederholten militärischen Eskalationen auf dem Gaza-Streifen verantwortlich sei, sondern Israel eine Mitschuld trage.

Schließlich hatte Augstein auch noch Günter Grass gewürdigt: „Grass ist weder Antisemit noch ein deutscher Geschichtszombie. Grass ist Realist. Er prangert das nukleare Potential Israels an, das ,keiner Prüfung zugänglich ist‘“, schrieb Augstein im April vergangenen Jahres, als sich der Grass-Skandal zur Empörungsolympiade auswuchs. [2]
„Er beklagt die deutsche Rüstungspolitik, die ein weiteres nuklearwaffenfähiges U-Boot nach Israel liefert. Und er wendet sich voll Überdruss von der ,Heuchelei des Westens‘ ab, die – das muss er gar nicht ausführen – seit jeher Richtschnur unseres Handelns im Nahen Osten ist, von Algerien bis Afghanistan.“
Dass Augstein Grass aber auch für allerlei „Unfug“ kritisiert hatte („Die Auslöschung des iranischen Volks, vor der er warnt, steht nicht auf der israelischen Agenda“), lässt das Wiesenthal-Zentrum unerwähnt.

Ergänzungsbedarf hat es eher, wenn es darum geht, seine Vorwürfe gegen Augstein zu unterstreichen. „Nur weil er ein Journalist ist, geben wir Herrn Augstein keinen Freibrief zu sagen, was er will und sich dann hinter journalistischer Integrität zu verstecken. Seine Aussage hat keine Richtigkeit, es gibt keine Basis dafür“, erklärte Rabbiner Abraham Cooper, ein Mitarbeiter des Zentrums.

Cooper ist für die Erstellung der Antisemiten-Rangliste zuständig, die von den ägyptischen Muslimbrüdern und der iranischen Regierung angeführt wird. [3]
„Wenn jemand in dieser Position ein Bild zeichnet, wonach zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung in Israel, die ja auch eine religiöse Bevölkerung ist, von den Deutschen genauso gesehen werden sollten wie islamische Extremisten und Terroristen, dann ist das nicht nur komplett unrichtig und falsch, sondern dann überschreitet er die Grenze, was Dämonisierung angeht“, meint Cooper.

Ein „lupenreiner Antisemit“?

Als Antisemitismus-Experten und Autorität für die Bewertung von Augsteins öffentlichen Äußerungen hat das Wiesenthal-Zentrum ausgerechnet den Rechtspopulisten Henryk M. Broder herangezogen.

Der Welt-Autor und Mitbetreiber des neokonservativen Online-Portals Die Achse des Guten ist für ausufernde Polemiken und Hasstiraden gegen Israel-Kritiker, vor allem für die Inflationierung des Antisemitismusvorwurfs bekannt und berüchtigt.

Entsprechend fällt Broders Expertise aus: „Jakob Augstein ist kein Salon-Antisemit, er ist ein lupenreiner Antisemit, eine antisemitische Dreckschleuder, ein Überzeugungstäter, der nur dank der Gnade der späten Geburt um die Gelegenheit gekommen ist, im Reichssicherheitshauptamt Karriere zu machen“, weigert sich Broder, noch einen Unterschied zwischen den Organisatoren des NS-Völkermords und Israel-Kritikern auszumachen. [4]
Daher findet er, dass Augstein in den Top Ten der Antisemiten-Parade viel weiter oben platziert gehört, „auf Platz drei etwa“. [5]

Jakob Augstein, Publizist

Jakob Augstein, Publizist

Rudolf Augstein reagierte auffallend moderat auf die massiven Angriffe. Er zollte dem Wiesenthal-Zentrum seinen Respekt, fügte aber hinzu: „Umso betrüblicher ist es, wenn dieser Kampf geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird.“

Diese Gefahr sehen offenbar sogar Vertreter der politischen Lager, die gewöhnlich für die israelische Regierungspolitik Partei nehmen oder auch für eine allzu freizügige Verwendung von Antisemitismus-Vorwürfen bekannt sind.

Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, distanziert sich von dem Vorgehen des Wiesenthal-Zentrums gegen Augstein.
Die Verantwortlichen hätten nicht genügend recherchiert oder sich kundig gemacht, kritisierte Korn im Deutschlandradio Kultur. „Offensichtlich ist das Simon-Wiesenthal-Center ziemlich weit weg von der deutschen Wirklichkeit.“ [6]

Die Bundesvizechefin der Christdemokraten, Julia Klöckner, die sich in der Regierung durch eine nahezu bedingungslose Israel-Solidarität hervorgetan und die Verteidigung Israels zur deutschen „Staatsräson“ erklärt hat, sagte, wenn jemand in einer freien Gesellschaft Regierungen kritisiere, sei das sein gutes Recht. „Wenn man daraus Antisemitismus ableitet, dann ist das sehr gewagt.“

Ähnlich äußerte sich der Bundestagsfraktionschef der Partei Die Linke, Gregor Gysi, der die Haltung der schwarz-gelben Regierung gegenüber Israel in Teilen unterstützt und zusammen mit dem rechten Flügel in der Linken Israel-Kritiker und Antiimperialisten in seiner Partei zum Verstummen gebracht hat.
Augstein sei ein herausragender kritischer Journalist, der teils berechtigte, teils unberechtigte Kritik an der Politik der israelischen Regierung übe, meint Gysi. „Deshalb aus ihm einen Antisemiten schmieden zu wollen, geht völlig fehl und unterstützt den schleichenden Antisemitismus.“

Stärkere Rückendeckung bekommt Augstein, wenn auch nur vereinzelt, von Kollegen: „Die Kritik, die Jakob Augstein regelmäßig an der Politik der israelischen Regierung äußert, ist weder besonders polemisch noch einseitig“, schreibt Christian Bommarius in der Frankfurter Rundschau.
„Sie deckt sich mit der Haltung vieler Israelis, die seit Jahr und Tag ihre Regierungen kritisieren, nicht nur, weil sie ein friedliches Mit- und Nebeneinander mit den Palästinensern mutwillig unmöglich machen, sondern auch, weil diese kompromisslos unversöhnliche Politik die Existenz Israels auf Dauer absehbar gefährdet.“ [7]

Scharfe Worte findet Bommarius für Henryk M. Broder: „Es spricht für den deutschen Rechtsstaat, dass Henryk M. Broder bis heute frei herumläuft, aber es spricht gegen das Simon-Wiesenthal-Center, dass es den Lügen und Verleumdungen dieser trostlosen Witzfigur aufgesessen ist.
Wer Broder Glauben schenkt, der vertraut auch einem Bankräuber sein Bargeld an und einem Kannibalen die Ehefrau.“
[8]

Die „Broders dieser Welt“

Der Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, Klaus Holz, wirft dem Wiesenthal-Zentrum vor, den Antisemitismus-Vorwurf zu einer „pauschalen Keule“ zu machen.
Henryk M. Broder hält er laut Deutschlandradio Kultur für einen „Pöbler“. Viele Intellektuelle, so Holz, duckten sich bei solchen Debatten weg und räumten damit das Feld für „die Broders dieser Welt“.

Wie gewohnt melden sich Letztere lautstark zu Wort. „Er (Augstein) nennt Gaza ,ein Lager‘ mit einer offensichtlichen Bezugnahme auf die Konzentrationslager der Nazis“, weiß Benjamin Weinthal, Deutschland-Korrespondent der Tageszeitung Jerusalem Post zu berichten, für die der glühende Linken-Hasser regelmäßig Artikel über angeblichen Antisemitismus der deutschen Friedensbewegung und andere Kritiker von Israels Besatzungspolitik schreibt. [9]

In Wahrheit hatte Augstein keine Vergleiche zwischen Israel und dem NS-Staat gezogen, sondern lediglich gesagt: „Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager. Israel brütet sich dort seine eigenen Gegner aus.“ [10]

Der Mitverfasser der umstrittenen „Antisemitismus-Studie“ über die Linkspartei und ehemaliger Autor des Magazins Bahamas, Samuel Salzborn, beteiligt sich nicht nur an der Treibjagd auf Augstein.
Ähnlich wie der Historiker Götz Aly („Wenn man die Gründe für Auschwitz wirklich verstehen will, soll man endlich aufhören, plakativ mit Namen wie ,Flick‘, ,Krupp‘ oder ,Deutsche Bank‘ zu operieren“) [11] ist der mittlerweile zum Professor berufene Sozialwissenschaftler offenbar der Meinung, dass die Oberschicht zwar zu wenig Rückgrat zeige, ansonsten aber eine antisemitenfreie Zone sei und daher als Avantgarde-Bewegung gegen den Judenhass prädestiniert ist: „Entscheidend“ für den Kampf gegen Antisemitismus im Täterland sind Salzborns Ansicht nach nicht etwa Bildungs- und Aufklärungsarbeit und zivilgesellschaftliches Engagement, sondern „nach wie vor die Haltung der Elite: sie muss öffentlich klar Position beziehen und darf sich nicht gemein machen mit Antisemiten, ob sie in Blog-Einträgen anonym oder in auflagenstarken Tageszeitungen prominent hetzen“. [12]

Interview mit Moshe Zuckermann

Hintergrund: Welche Auswirkungen haben Rankings, wie sie das Wiesenthal-Zentrum betreibt, auf die Antisemitismusforschung?

Moshe Zuckermann: Die Rankings haben mit Antisemitismusforschung rein gar nichts zu tun. Und auch mit Aufklärung nicht. Sie sind aber ein Symptom dafür, wie sich die Kulturindustrie mittlerweile des Diskursfeldes „Antisemitismus“ bemächtigt hat.
Man quantifiziert das Unquantifizierbare, um Sensation zu erzeugen bzw. um populistische Aufmerksamkeit zu erheischen.

Prof. Dr. Moshe Zuckermann

Prof. Dr. Moshe Zuckermann

Das hat mit der Aufdeckung von Antisemitismus und dessen Bekämpfung ungefähr so viel zu tun wie Schlager-Hitparaden mit der Verfeinerung von Musikkultur.

Hintergrund: Und „Eliten“ versus Antisemiten – ist das die Lösung?

Zuckermann: Ich wüsste nicht, worauf sich diese Annahme historisch zu stützen hätte. Eliten (oder das, was man für Eliten auszugeben pflegt) haben sich gerade in deutschen Geschichtszusammenhängen sehr oft ganz und gar nicht bewährt, schon gar nicht, wenn es darum ging, Antisemitismus zu bekämpfen.
Sie selbst waren nicht die einzigen, aber sehr wohl prononcierte Träger des Antisemitismus, und sie haben absolut nichts zu seiner Verhinderung beigetragen, als er in Deutschland eliminatorisch wurde.

Selbst der Widerstand des 20. Juli – seit Jahrzehnten Vorzeige-Bewegung dafür, dass es auch in Deutschland einen nennenswerten Widerstand gegen den Nazismus gegeben habe, als dieser zur Macht gelangte – war antisemitisch durchsetzt.
Was soll also dieses Gerede über die Eliten als bewährtes Mittel gegen Antisemitismus? Die Quellen des Antisemitismus sind sozialer Natur, im Sozialen sind sie aufzuspüren, im Sozialen sind sie zu bekämpfen.

Das Problem bestehet darin, dass das, was das Soziale ausmacht, welches den Antisemitismus zeitigt, nicht unberührt davon ist, was politische und wirtschaftliche Eliten strukturell treiben.
Überhaupt scheint mir der Rückzug auf Eliten als Heilmittel für ernsthafte strukturelle Defizite und soziale Deformationen regressiv und reaktionär.

Hintergrund: Nach Ansicht des Sozialwissenschaftlers Salzborn hat „die Elite“ zumindest in einem Fall schwer versagt. Er ist mit dem Simon-Wiesenthal-Zentrum der Meinung, dass der Verleger Jakob Augstein zu den schlimmsten Antisemiten der Welt gehört.
Wie sind dann eigentlich Neonazis und andere rechtsradikale Judenhasser einzuordnen?

Zuckermann: In der Frage steckt bereits das nötige Maß an Polemik zu ihrer Beantwortung. Das, was man sich mit der Einstufung von Jacob Augstein als einen Antisemiten geleistet hat, ist dermaßen idiotisch, dass man darüber eigentlich nur noch – freilich angewidert – lachen kann.

Es hat aber sein Gutes, was geschehen ist. Es wurde höchste Zeit, dass das miese Unwesen, das diverse Diffamierer im deutschen Diskurs mit dem Antisemitismus-Vorwurf betreiben, endlich als das vorgeführt wird, was es ist: als perfide ideologische Praxis zur Abfertigung und Zurichtung politischer Feinde.

Dass es diesmal jemanden getroffen, der nicht zu den „üblichen Verdächtigten“ gehört, ist, so besehen, ein günstiger Fall. Plötzlich verteidigen ihn Leute, die in dieser Hinsicht selbst einiges auf dem Kerbholz haben.

Hintergrund: Augstein gehöre zu den besonders hinterhältigen Antisemiten, die ständig behaupten würden, der Antisemitismus-Vorwurf werde in Deutschland inflationär gebraucht, um Israel-Kritiker mundtot zu machen, haben nun besonders clevere Antisemiten-Jäger herausgefunden.
„Wirksam ist hier ein Projektionsmechanismus: dass die, welche die Verfolger waren und es potentiell heute noch sind, sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten“, schreibt beispielsweise Stefan Gärtner, Autor der Satire-Zeitschrift Titanic – deren Redaktion hat in Teilen längst auch die Vorzüge der bedingungslosen Israel-Solidarität für sich entdeckt –, bringt Augsteins Aussagen mit einem Zitat von Joseph Goebbels in Verbindung und meint das völlig ernst.
„Dass die Juden uns den Mund verbieten, ist das Gerücht über die Juden, das nach Adorno der Antisemitismus ist. Wer glaubt, dass es wahr sei, ist ein Antisemit. Augstein ist einer“, lautet Gärtners Fazit.
Herr Zuckermann, vielleicht haben Sie die Gerissenheit von Augstein unterschätzt?

Zuckermann: Schauen Sie, man könnte jetzt eine Endlosschleife konstruieren, bei der sich, wie bei jedem paranoiden Syndrom, ein ganzes Universum auf der Basis einer irrigen Grundannahme errichten lässt.
Wenn jemand beschlossen hat, dass Augstein ein Antisemit ist, wird er sich keine Sophisterei entgehen lassen, um dies auch zu belegen.

Was hierbei als Beweis angeführt wird, mag objektiv noch so falsch sein, es ist es aber nicht für den, der diesen Beweis braucht, um die paranoide Endlosschleife am Leben zu erhalten.
Denn was für ein Leben hat der Paranoide ohne seine Paranoia? Es geht doch schlicht darum, dass Israel-Kritik in Deutschland mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, und zwar ganz unabhängig davon, was Israel tut, wie es in Israel zugeht, wohin seine Politik steuert, und welches Leid sie zeitigt.

Jene, die meinen, Israel dabei durch den Antisemitismus-Vorwurf verteidigen zu sollen, scheren sich kein bisschen um Israel. Israel als Realität interessiert sie gar nicht, sondern lediglich als Projektionsfläche zur Verarbeitung eigener identitärer Defizite.
Mit Augsteins Argumenten will man sich dann gar nicht auseinandersetzen – er muss zum Antisemiten werden, damit die eigene Unzulänglichkeit im Verhältnis zu Israel nicht zur diskursiven Disposition gestellt wird.

Ich weiß nicht, welche Folgen diese Broder-Augstein-Schlammschlacht zeitigen wird. Wenn aber der hermetisch geschlossene paranoide Zirkel der Broders, Gärtners und Gesinnungsgefolge dieser Art zumindest im öffentlichen Bewusstsein aufgebrochen werden würde, wäre zumindest der erste Schritt getan, nicht nur um der perfiden Diffamierungspraxis ein Ende zu setzen, sondern um der Bekämpfung des wirklichen Antisemitismus in Deutschland endlich ein Tor zu öffnen.

Hintergrund: Worin besteht die von Ihnen benannte „Unzulänglichkeit im Verhältnis zu Israel“? Es sind ja nicht nur nichtjüdische, sondern auch jüdische Deutsche wie Herr Broder und Amerikaner wie Herr Cooper und seine Kollegen vom Wiesenthal-Zentrum, die bereits jeden Anflug von Israel-Kritik hysterisch als Antisemitismus skandalisieren und reflexhaft mit performativen Solidaritätsbekundungen gegenüber dem Judenstaat reagieren.

Zuckermann: Wie ich schon sagte, rührt das zunächst daher, dass diese Leute in erster Linie projizieren. Israel dient ihnen als Projektionsfläche für alles Mögliche, nur nicht als Gegenstand realistischer politischer Auseinandersetzung.

Was dabei bei Deutschen vorgehen mag, liegt ja auf der Hand: die infantile Bewältigung einer gewaltigen historischen Schuld, mit der sie nicht zurande kommen.
Dass dabei keine wirkliche Aufarbeitung der Vergangenheit geleistet wird, kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn.

Juden wie Broder bewegt wohl eine andere Form der Schuld: die Tatsache, dass sie es lebensgeschichtlich selbst nicht geschafft haben, sich in Israel eine Existenz aufzubauen.
Viele von ihnen, die es versucht haben, sind kläglich gescheitert. Es kommt aber etwas anderes hinzu: Weil sie auf Israel so heftig projizieren, ist das, was Israel verbricht, eine schwere narzisstische Kränkung für sie.
Daraus stricken sie sich dann die ideologische Form der Bewältigung, eben den Antisemitismus-Vorwurf.

Hintergrund: Kommen wir doch mal zur gesellschaftlichen und politischen Realität in Ihrem Land. Einer der Hauptvorwürfe an Augstein lautet, dass er behauptet hat, der jüdische Fundamentalismus in Israel sei „aus dem gleichen Holz geschnitzt“ wie der islamische.
Beide wollten den Frieden nicht. Was ist daran wahr, und was ist daran falsch?

Zuckermann: Wahr ist daran, dass der jüdische Fundamentalismus – gemeint ist wohl in erster Linie der nationalreligiöse der Siedler in den besetzten Gebieten – und der islamische Fundamentalismus beide ihre Weltanschauung auf einen unverrückbaren religiösen Glauben gründen.

Im Gegensatz zu orthodoxen Juden politisieren die nationalreligiösen Fundamentalisten ihren Glauben und setzen ihre Ideologie im Territorialkonflikt mit den Palästinensern ein.
Der Hass der jüdischen Fundamentalisten auf die Araber steht dem Hass der Islamfundamentalisten auf die Juden in nichts nach.

Zu fragen wäre allerdings, ob es den islamistischen Hass auf die Juden weiterhin geben würde, wenn der israelisch-palästinensische Konflikt friedlich beigelegt werden würde. Ich gehe davon aus, dass die Haupthandhabe für diesen Hass dann aus der Welt geschafft wäre.
Wie es da mit dem nationalreligiösen jüdischen Fundamentalismus bestellt sein wird, kann ich nicht beurteilen.

Hintergrund: Herr Augstein meint, dass die Rachegelüste und der andauernde Krieg die Reaktionäre in den beiden Lagern „aneinander bindet“ und schreibt:
„Irrsinn ist die Gewalt nur demjenigen, der glaubt, dass sie überwunden werden soll. Wer die Sinnstiftung der Gewalt erkannt hat, wird die Hoffnung auf ihre Überwindung fahren lassen. Im Nahen Osten sollte man nicht auf ein Ende der Gewalt hoffen.“

Zuckermann: Ich weiß nicht, warum Augstein meint, so fatalistisch über die Möglichkeit der Gewaltüberwindung im Nahen Osten urteilen zu sollen. Wenn Deutschland und Frankreich es nach 300 Jahren Erbfeindschaft und unzähligen Kriegen geschafft haben, den Frieden miteinander zu schließen, sollte das auch im Nahen Osten in kürzerer Zeit zu machen sein.

Gerade nach dem, was sich in den letzten anderthalb Jahren alles im Nahen Osten bewegt hat, sollte man den orientalistisch-essentialistisch eingefärbten westlichen Blick auf diese Region vermeiden.
Selbst für den Nahen Osten gilt, dass alles, was historisch entstanden ist, auch historisch veränder- bzw. überwindbar ist.

Hintergrund: Vielen Dank, Herr Zuckermann.

Prof. Dr. Moshe Zuckermann (* 1949 in Tel Aviv) ist ein israelischer Soziologe und Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Leiter der Sigmund Freud Privatstiftung in Wien.
Zuckermann ist Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender. Seine Eltern emigrierten 1960 nach Deutschland (Frankfurt/Main), wo Zuckermann auch studierte. Studium der Soziologie, Politologie und Allgemeine Geschichte an der Universität Tel Aviv (TAU).

RF/hg

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→ Antisemitismusbegriff als polemische Schmähpraxis, 16.04.2012

  1. Spiegel.de, 19.11.2012
  2. Spiegel.de, 06.04.2012
  3. rp-online.de, 04.01.2013
  4. achgut.com, 17.09.2012
  5. taz.de, 29.12.2012
  6. dradio.de/dkultur/, 04.01.2013
  7. fr-online.de, 02.01.2013
  8. fr-online.de, 02.01.2013
  9. jpost.com, 03.01.2013
  10. Spiegel.de, 19.11.2012
  11. taz.de, 15.01.2005
  12. publikative.org, 03.01.2013

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