F ür die Avantgarde ist Mursi ein Konterrevolutionär, der das Land am Nil zurück in die Mubarak-Dikatur mit islamischem Anstrich führt. Für wichtige Teile der breiten, vielfach auch passiven Massen gilt er jedoch als Garant der Revolution.
Die Proteste gegen Mursis autoritäre Dekrete tendieren indes zum Kampf um den Sturz des Präsidenten zu eskalieren – eine Konfrontation, in der die Revolutionäre kaum Chancen auf Sieg haben.
Es ist genau diese scheinbar kleine politische Drehung – vom Kampf gegen einen diktatorischen Ukas zum Versuch das Regime zu kippen – um den es hier gehen soll. Denn darin liegt ein entscheidender Unterschied, wenn man sich dem Problem mittels dem Gramsci’schen Hegemoniekonzept nähert.
Die Linie der Tahrir-Linken ist klar: Mursi ist der Usurpator ihrer Revolution. Sie waren es, die den Sturz Mubaraks bewerkstelligt hatten, während die Muslimbrüder hinterdreintrotteten und viele Salafisten sogar Mukarak unterstützten.
Nach seinem Sturz taten die MB alles, um die Bewegung zu bremsen. Sie bildeten sogar einen Block mit den Militärs gegen den Tahrir. Der Tahrir wollte der Junta den Garaus machen, während die MB einen graduellen Übergang anstrebten, der sie über Wahlen – egal zu welchen Bedingungen – an die Macht führen sollte.
Das ist schließlich auch gelungen, nur um eine neue, nunmehr islamische Diktatur zu errichten. Dabei spielen die MB das Spiel der USA, sowohl im Land als auch regional, deren neue Handlanger sie geworden sind.
Die diktatorischen Vollmachten, die sich Mursi kürzlich verliehen hat, sind ein erneuter Beweis dafür. Daher muss man mit allen Mitteln Mursi, den neuen Pharao, stoppen und stürzen wie man Mubarak gestürzt hat.
Dass der Proteststurm gegen Mursis Selbstermächtigung aus revolutionärer Sicht zu unterstützen ist, steht genauso außer Frage, wie viele Einzelelemente des dargestellten Narratives.
Der Fehler liegt in der Zusammenschau, im Gesamtzusammenhang und wird in der politischen Linie, nämlich des frontalen Zusammenstoßes mit dem Maximalziel des Sturzes Mursis, fatal. Denn mit dieser Linie kann man sich im besten Fall nur blutige Köpfe holen.
Die breite Nachhut
Die Revolutionäre des Tahrirs sind eine Avantgarde, die, als sie Mubarak stürzten, die absolute Mehrheit der Volksmassen hinter sich hatten. Sie stürmten vorwärts, durchbrachen die Angst und alle folgten oder mussten folgen – oder mit Mubarak untergehen.
Doch dann kamen die Muslimbrüder und andere Islamisten und übernahmen das Ruder. Sie begannen die Früchte der Volksrevolte zu ernten. Sie haben über die Jahrzehnte tiefe Wurzeln über den gesamten Stufenbau der Gesellschaft hinweg geschlagen, von ganz unten, über den Mittelstand bis in die Elite hinein, in der Stadt wie am Land. Sie sind an sich gegen Revolutionen, sondern erstreben graduelle, möglichst bruchlose Verschiebungen.
Doch ihre Klientel wünscht sich durchaus Veränderungen: weg von der Unterordnung unter die USA und den Westen, eine Überwindung der Massenarmut und sozialen Fortschritt sowie ein gewisses Maß an Freiheiten.
Diese Interessen stehen für die Mehrheit im Gleichklang mit dem Islam, er ist oftmals sogar ihr Symbol.
Aus dieser Perspektive muss die Zurückdrängung der Militärjunta als sensationeller Erfolg erscheinen, ebenso wie die Lockerung des von den Zionisten und der USA diktierten Embargos gegen Gaza.
Die Vollmachten, die sich Mursi selbst erteilt hat, können da durchaus als Sicherung gegen die die Mubarak-Leute erscheinen, die ja durchaus noch da und einflussreich sind.
Die Ausschaltung der Justiz, die ein Bollwerk des alten Regime war, per präsidialem Verfassungsdekret, kann aus dieser Sicht auch als ein positiver Schritt wahrgenommen werden, zumal es sich sogar um eine Forderung des Tahrirs handelte. Den Islamisten war ja vorgeworfen worden, die Straflosigkeit des alten Regimes akzeptiert zu haben.
Also aus diesem Blickwinkel ein weiterer Pluspunkt für Mursi von Seiten jener, die grundsätzlich ihrem „Garanten der Transformation“ einen Vorschuss an Vertrauen einräumen. Man fordert ihn arbeiten zu lassen und betrachtet die Attacken als konterrevolutionär.
Diesem Narrativ passt es hervorragend, dass wichtige Teile des alten Regimes unter der Flagge des Säkularismus sich auf die Seite des Tahrir zu schlagen versuchen, so sehr sich dieser auch gegen die ungewünschte Umarmung wehrt. Da wäre eine vom Westen unterstützte Konterrevolution gegen den Islam zu unterbinden.
Und schon hat sich das ägyptische Kräftedreieck aus Altregime-Islamisten-Tahrir verschoben. Schien der Tahrir allein gegen die beiden anderen zu stehen und die Revolution zu verteidigen, so schlagen die Islamisten nun zurück und stellen den Tahrir als Anhängsel der Mubarakisten dar.
Zwei Konzeptionen prallen also auf einander, die durchaus Glaubwürdigkeit und innere Kohärenz haben. Solchen partiellen Konsens hatte zuvor das Mubarak-Regime gänzlich verloren.
Das heißt in keiner Weise, dass es sich um zutreffende Analysen handelt, dennoch muss für den Entwurf einer politischen Linie die sozio-politische Macht solcher Narrative in Rechnung gestellt werden.
Mursi ungleich Mubarak
Um einen Schlüssel zur Auflösung dieser Sackgasse zu entwickeln, muss die Gleichsetzung der Muslimbrüder mit dem Mubarak-Regime radikal verworfen werden.
Denn die zentrale Rolle der MB und anderer Islamisten ruht auf einer sehr tiefen und breiten Massenbewegung in Ägypten und der gesamten arabischen Welt, eine Bewegung, die erst an ihrem Anfang steht und deren Motor noch lange nicht verbraucht ist. Sie korrespondiert mit einer globalen Schwächung der US-Vorherrschaft die Raum lasst, in den die Islamisten vorstoßen können.
Die MB mögen diese Massenbewegung beschneiden, lenken, manipulieren, amputieren – doch auf die eine oder andere Weise müssen sie sich auf sie beziehen. Zumindest in einem umfassenden historischen Sinn frontal gegen sie stellen, können die MB bei Strafe des Vertrauensverlusts nicht.
Auf ihre Art werden sie Ergebnisse liefern müssen und liefern, die ihnen einen gewissen Massenkonsens erhalten. Bei dieser Betrachtung der Beziehung zur Bewegung der subalternen Klassen bietet sich die Analogie mit der europäischen Sozialdemokratie an, trotz aller kulturellen Differenzen. [1]
Der Vergleich schließt repressive und autoritäre Maßnahmen ausdrücklich ein, die die Sozialdemokratie gegenüber der Arbeiterbewegung als ganzer und insbesondere gegenüber ihrer kommunistischen Avantgarde anwendete.
Kairos neue regionale Rolle
Vor allem auch auf internationaler Ebene darf man sich vom Versuch der Kooperation mit den USA nicht täuschen lassen und eine lineare Fortsetzung der Politik Mubaraks annehmen.
Natürlich will und kann Mursi nicht mit Washington brechen, doch werden sie vorsichtig vom Übervater abrücken und selbständiger handeln. Der erste Schritt war die Aufweichung der für die USA so wichtigen antiiranischen Linie mit dem Besuch in Teheran und der bekundeten Bereitschaft zum Dialog mit der Islamischen Republik.
Als zweites Ereignis in dieser Richtung kann die Lockerung des Embargos gegen Gaza [2] gewertet werden, dass Mubarak im Dienste Washingtons eisern exekutiert hatte.
Drittens muss die zunehmende Distanz zum anderen entscheidenden US-Verbündeten betrachtet werden, nämlich Saudi-Arabien. Das geht so weit, dass Riad tendenziell auf Seiten der Feloul (also der alten Mubarak-Leute) zu stehen gekommen ist.
Hier drängt sich wiederum der Vergleich mit der Türkei und der AKP auf, auch wenn dort die Verschiebung weg von den USA und dem Westen mit weniger Brüchen und Konflikten von statten ging.
Im weiteren Sinn kann man die AKP mit den Muslimbrüdern vergleichen. Schrittweise haben sie die säkulare Militärdiktatur zurückgedrängt und eine begrenzte, aber doch spürbare Demokratisierung eingeleitet.
In der kurdischen Frage, dem schärfsten Konflikt in der Gesellschaft, haben sie zumindest die Fronten aufgeweicht und gewisse Reformschritte sind durchaus noch zu erwarten. Erdogan scherte unter dem Titel „keine Probleme mit den Nachbarn“ aus der Front gegen den Iran aus, rückte etwas vom traditionellen Bündnis mit Israel ab und machte mit Assad beste Geschäfte.
Dass er sich auf die Seite der syrischen Revolte schlug, war nicht aus prowestlichen Interessen, sondern aus dem Kalkül, dass Assad bald stürzen würde und die Türkei ihren neoosmanischen Einfluss weiter vergrößern könnte.
Dieses Kalkül stellte sich jedoch als falsch heraus und führte Ankara in eine Sackgasse.
Ägypten war und ist das Zentrum der arabischen Welt. Der unaufhaltsame tektonische Drift geht hin zu mehr Unabhängigkeit vom Westen. Das geht indes nicht so bruchlos und verhältnismäßig konfliktfrei wie in der Türkei, denn das Land am Nil agiert unter völlig anderen, vor allem ökonomisch viel ungünstigeren Rahmenbedingungen.
Dass sich die Beziehung zu Israel abkühlen wird, wenn auch die MB einen Bruch mit den USA unbedingt vermeiden wollen, ist absehbar. Die strategische Frage, die bislang unbeantwortet ist, dreht sich um die Beziehung zum Iran und damit auch zu Saudi-Arabien, dass die antipersische und auch antischiitische Kampagne anführt.
Zwar vertreten die MB durchaus auch ein konfessionalistisches Element gegen die Schia, doch kann das moderiert werden, so wie das auch in der Türkei der Fall ist. Viel hängt von den Ereignissen und dem Ausgang in Syrien ab, in dem Kairo natürlich auch Partei ist.
Ein Ausgleich mit Teheran würde Ägypten schnell zur Zentralmacht der Region aufsteigen lassen und Saudi-Arabien ins Eck drängen.
Das ist indes keineswegs ausgemachte Sache. Da treten starke Gegenmomente auf. Doch selbst eine akzentuierte Beteiligung an der antischiitischen Kampagne muss nicht unbedingt die Eingliederung in die westliche Phalanx bedeuten.
Ein gewisses selbständiges Potential hat Ägypten allemal, zumal im Bündnis mit der Türkei. Es wäre ein großer Fehler anzunehmen, dass nur der persisch-schiitische Block antiimperialistisches Potential hätte. Man erinnere sich an die Dual-Containment-Linie der USA im Iran-Irak-Krieg. Ein selbständiges Ägypten wäre um vieles mächtiger und bedeutender als Saddams Irak und könnte durchaus amerikanische Ängste wecken – israelische sowieso –, welche Washington versuchen könnten, zurück zur Politik der „doppelten Eindämmung“ zu streben.
Denn Kairo ist nicht der treue Diener Riad.
Was damit im Kontext des Zusammenstoßes MB-Tahrir gesagt werden soll: Mursi ist kein rachitischer Diktator wie Mubarak, sondern hat das Potential, in wichtigen Teilen der Bevölkerung, einschließlich der unteren Klassen, Konsens zu schaffen, vor allem mit der Außenpolitik, aber auch mit der Innenpolitik – trotz der autoritären Züge.
Er kann mit einem Frontalangriff unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen nicht gestürzt werden. Im Gegenteil, dieser Versuch kann nach hinten losgehen und den Tahrir isolieren. Die revolutionäre Vorhut läuft Gefahr sich von den Massen abzukoppeln und in der Folge der Repression schutzlos ausgeliefert zu sein.
Ihr Säkularismus könnte zur selbst gelegten Falle werden. Angezeigt wäre indes sich in der notwendigen Geduld zu üben und stetig mit dem Druck zur Umsetzung der Forderungen und Interessen der Massen, die Differenz zwischen diesen einerseits und den konkreten Taten der Muslimbrüder andererseits aufzuzeigen.
Deklination des Tahrir
Die grundlegenden Forderungen des Tahrir bleiben natürlich legitim, genauso wie die Kritik an Mursi und den Muslimbrüdern. Das alte Regime ist noch nicht eliminiert, die vollen demokratischen Rechte bei weitem noch nicht hergestellt. (Von Lösungen für die katastrophale soziale Lage wird überhaupt kaum gesprochen.)
Was es vor allem bräuchte, ist eine echte, in freier Volkswahl bestimmte Verfassungsgebende Versammlung, nicht das Gemurks aus Militärdiktatur und islamistischem Oktroi.
Doch das durchzusetzen, dafür ist der Tahrir nicht stark genug. Die Massen haben noch keine ausreichenden Erfahrungen mit den Muslimbrüdern gemacht, die sich jahrzehntelang als Alternative präsentiert haben.
Viele wollen ihnen diese Chance geben, selbst wenn sie nicht überall übereinstimmen. Die nächsten Jahre gehört ihnen die Führung des Landes, daran führt kein weg vorbei. Um sich in eine demokratische Richtung entwickeln zu können, muss die Gesellschaft diese Erfahrung machen.
Für die Revolutionäre ist diese Periode jedoch keine verlorene Zeit, sondern bietet seit vielen Jahrzehnten die erste Möglichkeit wieder in den Massen Fuß zu fassen und eine politische Alternative zu entwickeln.
Es wäre schon als gewaltiger Erfolg anzusehen, wenn der Tahrir seine neu gewonnene Freiheit verteidigen und konsolidieren könnte.
Er reicht aus, die Forderungen nach voller Demokratie und sozialer Gerechtigkeit ohne Unterlass an das neue Regime zu richten. Die Zeit würde das ihrige tun und den Einfluss des Tahrirs Schritt für Schritt vergrößern.
Der autoritäre Streich Mursi könnte so zurückgewiesen und ihm zu Eigentor, zur selbst gestellten Falle werden.
Doch die Verknüpfung mit dem Sturz Mursis hebt sie Sache auf eine völlig andere Ebene, wo die legitimen demokratischen und sozialen Forderungen untergehen.
Der Tahrir macht sich damit von einer potentiellen Vorhut der Mehrheit zu einer isolierten Minderheit gegen den Mehrheitswillen.
Säkularistische Falle
Und da kommt ein weiterer Faktor ins Spiel – das alte Regime. Dieses versucht sich zu recyceln, in dem es die Anti-Mursi-Aktionen umarmt. So sehr sich der Tahrir auch zu wehren versucht, für den islamischen Block ist das ein gefundenes Fressen.
„Säkularisten gegen die Revolution.“ Auf einmal kann sich der Chef des Strafkassationsgerichts Maged, ein Feloul, der von Mursi attackiert wurde, wieder in die Öffentlichkeit trauen.
Mursi hat sein autoritäres Dekret vor allem gegen die alte Mubarak-Justiz gerichtet, die bisher ein wichtiger Feind der Volksbewegung war.
Auf der Ebene der breiten Masse ist daher die radikale Opposition des Tahrir dagegen nicht gerade leicht vermittelbar und müsste entsprechend kalibriert werden.
Bisher galt, dass im ägyptischen Kräftedreieck das Altregime mit den Islamisten stand. Der Fehler vieler Linken war anzunehmen, dass sich die MB nicht absetzen könnten, was sie im letzten halben Jahr mit Mursi indes getan haben.
Sieht die Linke nun Mursi und seinen Block als Hauptfeind an, kommt automatisch das alte Regime aus dem Schussfeld.
Strategische Aufgabe wäre es, den islamischen Block gegen das alte Regime vor sich her zu treiben und ihn damit auch zu differenzieren. (Nur) damit kann die notwendige Mehrheit für wirkliche, radikale demokratische und soziale Veränderungen entwickelt werden.
Die Angst vor dem Islam ist groß, sehr groß und macht bisweilen blind für den Kampf um die Mehrheit. Dieser Mehrheit geht es in erster Linie um Demokratie, soziale Entwicklung und nationale Selbständigkeit.
Der Islam wird dabei als Symbol dafür angesehen, an dem jeder in seine Richtung zerrt. Stellt sich die Linke und der Tahrir gegen dieses Symbol, tappt sie in die säkularistische Falle und kann nur verlieren.
Versteht sie diese Falle zu umgehen, ja mitunter selbst dieses Symbol zu nutzen, dann hat sie über einen langen Prozess des Kampfes um Hegemonie die Chance die politische Führung des Kampfes für Demokratie, sozialen Fortschritt und nationale Souveränität zu übernehmen.
- Mursi dazwischen, AIK 27.06.2012 ↩
- Gaza-Waffenruhe zeigt Verschiebung zuungunsten Israels an, AIK 23.11.2012 ↩