W enn ein Wendepunkt erreicht wird, verlangsamt sich die bisherige Bewegung, kommt zum Stillstand und setzt sich dann in die entgegengesetzte Richtung fort.
Diejenigen unter uns, die schon bisher für eine vernünftige US-Aussenpolitik im Nahen Osten eingetreten sind, wissen sehr wohl, dass es sehr schwer ist, deren bisherige Richtung zu ändern, weil die Israel-Lobby in den USA sehr einflussreich und mächtig ist.
Vor zehn Jahren war es noch unmöglich, auch nur einen Leserbrief in den Mainstream-Medien der USA unterzubringen, in dem Israel kritisiert wurde. Ausser Pat Buchanan wagte es niemand, im Fernsehen Kritik an Israel und dessen Politik zu äussern.
In den US-Medien war Israel immer die von brutalen Arabern umzingelte kleine Demokratie.
Dann begann sich auf einmal das Komplott des Verschweigens aufzulösen.
Das Umdenken begann mit der Aufarbeitung der Vorgeschichte des Irak-Krieges, die einsetzte, als sich dieser Konflikt immer mehr in die Länge zog. Viele erkannten, dass Washington diesen Krieg auch im Interesse Israels vom Zaun gebrochen hatte.
Philip Zelikow, der Chefberater der Kommission, die den offiziellen Bericht über die Anschläge am 11.09.2001 erarbeitet hat, erregte im März 2004 mit der Feststellung, der Irak-Krieg werde “zum Schutz Israels” geführt, grosses Aufsehen; das war sicher übertrieben, enthielt aber etwas mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.
Auch viele US-Bürger beginnen jetzt zu erkennen, dass die Agitation für einen neuen Krieg gegen den Iran nach dem gleichen Muster (wie vor dem Krieg gegen den Irak) abläuft und hauptsächlich von Unterstützern Israels betrieben wird.
2006 veröffentlichte der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter sein Buch “Palestine: Peace Not Apartheid” (Palästina: Frieden statt Apartheid). Dieses löste einen Aufsehen erregenden Skandal aus und provozierte neben von den Medien hochgespielten Austritten aus dem Vorstand der Carter-Stiftung auch den Vorwurf, Carter unterstütze mit seinem Buch die palästinensischen Terroristen.
Der grosse Meinungsumschwung begann aber erst 2007 mit der Veröffentlichung des von Stephen Walt und John Mearsheimer verfassten Buches “The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy” (Die Israel-Lobby und die US-Aussenpolitik).
Dieses Buch schaffte es, auf die Bestseller-Liste der New York Times zu kommen, und danach war es plötzlich möglich, auch ohne die bisher geforderte Rücksichtnahme über Israel zu sprechen. Zum ersten Mal erkannten die US-Bürger die Macht der Israel-Lobby und deren schädliche Auswirkungen auf die Eigeninteressen der USA.
Die Aussicht auf einen endlosen Krieg, der aus dem Versuch erwachsen könnte, die ganze islamische Welt gewaltsam zu unterwerfen, zog eine Reihe von Leserbriefen und Kommentaren in den Mainstream-Medien nach sich, in denen Kritik an Israel und seiner Politik geübt wurde.
Es waren zwar nicht sehr viele, und sie wurden auch immer mit zahlreichen Gegenkommentaren “ausbalanciert”, sie zeigten aber immerhin, dass sich (in den USA) ein Umdenken anbahnte.
Die grossen jüdischen Organisationen (in Nordamerika und in Europa), die immer eingreifen, wenn sie die Interessen Israels bedroht sehen, versuchten natürlich, alle Kritiker als “Antisemiten” zu diskreditieren. Sie schafften es tatsächlich, jede Kritik an Israel mit dem Stigma “Antisemitismus” zu belegen, und drückten in Kanada und in mehreren europäischen Staaten Gesetze durch, die jede Kritik an Israel de facto zur “Volksverhetzung” machen.
Einige US-amerikanische Juden haben sich aber schon immer mit der dunklen Seite der Geschichte Israels beschäftigt – mit der → Nakba, der ersten Vertreibung von Palästinensern aus ihren Häusern, mit der heutigen israelischen Siedlungspolitik auf der West Bank, mit der Errichtung der “Sicherheitsmauer” und mit der Verweigerung der Bürger- und Menschenrechte für die Araber, die in Israel selbst oder in den besetzten Palästinensergebieten leben.
Sie gingen zu Recht davon aus, dass Israel nie die Absicht hatte, die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaates zuzulassen.
Viele begannen zu protestieren, obwohl sie ihre Stimme zuerst nur in alternativen Medien erheben konnten; es gelang ihnen aber, progressive Gruppen für einen breit angelegten Friedensplan zu gewinnen – als Antwort auf den entsetzlichen “Globalen Krieg gegen den Terror”, den George W. Bush angezettelt hat.
Jetzt scheint in den USA endlich ein Wendepunkt erreicht zu sein. Kürzlich hat der Zionist Peter Beinart, der jahrelang zu den Verteidigern Israels gehörte, sein Buch “The Crisis of Zionism” (Die Krise des Zionismus) veröffentlicht; darin beschreibt er Israel als waffenstarrendes Land, das sich vor allem mit der Unterdrückung und Vertreibung seiner palästinensischen “Leibeigenen” beschäftige.
Als liberaler Jude verwirft er das militante Vorgehen des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu und unterstützt sogar einen wirtschaftlichen Boykott gegen Israel, wie er wegen der Apartheid gegen Südafrika verhängt worden ist.
Das Buch hat – wie vorauszusehen war – einen regelrechten Sturm der Entrüstung bei den Israel-Unterstützern ausgelöst, aber Beinart blieb nicht allein.
Auch Tom Friedman und Paul Krugman von der New York Times, die beide Juden und langjährige Freunde Israels sind, haben ihm zugestimmt und bedauert, dass die israelische Regierung nicht mehr die liberalen und humanistischen Werte vertrete, denen sie sich selbst verpflichtet fühlten.
Ausserdem sei noch daran erinnert, dass immer mehr junge US-amerikanische Juden Israel nicht mehr so positiv wie ihre Eltern sehen; auch das ist ein Zeichen dafür, dass die ältere Generation, die Israel immer Recht gibt, unabhängig davon, was es tut, bald Geschichte sein wird.
Und das ist noch nicht alles. Sogar die Mainstream-Medien beginnen von Israel abzurücken. Am 22. April berichtete 60 Minutes, das US-Fernsehprogramm, dessen Nachrichten und Kommentare bei den Zuschauern am beliebtesten sind, über die Verfolgung der Christen in Israel.
Der Bericht war ein echter Schock für die vielen fundamentalistischen Christen, die Israel bisher durch eine rosarote Brille gesehen haben. Gerade die Evangelikalen haben den Mythos verbreitet, Israel beschütze seine Christen, was es aber keineswegs tut; in 60 Minutes wurde gezeigt, dass die Christen in Israel in Wirklichkeit dezimiert und zur Emigration gezwungen werden sollen.
Michael Oren, der israelische Botschafter in den USA, der in dem Bericht interviewt wurde, versuchte ihn als unwahr darzustellen und sprach von „einer üblen Verleumdung“. Sein Auftritt, bei dem er abwechselnd überheblich und wütend wirkte, wurde zum Desaster, weil er sogar grosse christliche Gemeinschaften der USA des “Antisemitismus” bezichtigte.
Das Büro Benjamin Netanjahus schloss sich Orens Behauptung an, der Bericht sei eine “Bedrohung für Israel” gewesen. Damit versuchte Netanjahu ein weiteres Mal selbst, das schlechte Image seiner Regierung in der Öffentlichkeit zu verbessern.
Kurz vorher hatte er den deutschen Literaturnobelpreisträger → Günter Grass angegriffen und ihm eine Reiseverbot für Israel erteilt, weil dieser „mit seinem Geschreibsel Israel sehr verletzt“ habe.
Netanjahu regierte damit auf den sehr zurückhaltenden Vorwurf, die Atommacht Israel gefährde „den ohnehin brüchigen Weltfrieden“, den Grass in einem Gedicht erhoben hat.
Netanyahu weiss, dass die Zeit gegen ihn und seine Politik arbeitet, weil auch die Zahl seiner Kritiker unter den ehemaligen Repräsentanten seines eigenen Landes wächst; er ist aber zu verstockt, um zu tun, was getan werden muss.
Eines der dunkelsten Geheimnisse Israels ist das Ausmaß der Flucht junger, gebildeter Juden, die es auf grünere Weiden vor allem in die USA zieht. Nach groben Schätzungen hat bereits ein Drittel der zweiten und dritten Generation der in Israel geborenen Juden mit abgeschlossenem Universitätsstudium das Land verlassen.
Zurück bleiben die neuen Einwanderer aus Russland, von denen viele weder religiös noch jüdischer Herkunft sind, und die islamophobischen Rassisten, die den Kern der israelischen Ultrarechten bilden.
Israel veröffentlicht keine Statistik über die Abwanderung seiner studierten Jugend, die seine demographischen Probleme verschärft und seine Wettbewerbsfähigkeit verringert hat.
Wir haben also den Punkt erreicht, an dem die sprichwörtliche Katze aus dem Sack ist. Die Mehrheit der US-Bürger – mit Ausnahme der Kongressmitglieder – hat erkannt, dass in Israel etwas völlig falsch läuft.
Auch in Israel selbst kommt es vermehrt zu harten Debatten über die Politik des jüdischen Staates, die sich ändern muss. Will Israel ein normaler Staat mit vernünftigen Beziehungen zu seinen Nachbarn werden, zu denen auch ein unabhängiger Palästinenserstaat gehören muss, oder will es weiterhin der unsinnigen Strasse des Niedergangs folgen, die es in den Ruin führen wird?
Israel muss sich zwar selbst entscheiden, aber in den USA wird jetzt zum ersten Mal wirklich frei und offen über dieses Problem geredet und geschrieben.