D ie Ausstellung Baumeister der Revolution lenkt den Blick auf einen Bereich der sowjetischen Avantgarde, der in Europa und darüber hinaus relativ unbekannt geblieben ist: die Architektur.
Auch in Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind die Namen der meisten Architekten weitestgehend vergessen. Ihre Bauten sind nicht in dem Maße Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden, wie es das „Neue Bauen“ im Westen ist.
Die Ausstellung stellt dieses beeindruckende Kapitel der Avantgarde auf ungewöhnliche Weise vor, indem sie drei inhaltliche Ebenen miteinander verschränkt.
Ausgewählte Werke der frühen Avantgarde, u.a. von El Lissitzky, Gustav Kluzis, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko oder Wladimir Tatlin zeigen die intensive Beschäftigung der Künstler seit 1915 mit Fragen von Form, Raum und Materialität.
Nach der Revolution engagierten sie sich in verschiedenen Gremien für die Umsetzung dieser Ideale wie 1919/20 in der Kommission für die Synthese von Malerei, Bildhauerei und Architektur.
Die Architekten Nikolai Ladowski, Wladimir Krinski, aber auch der Maler Rodtschenko schufen dort erste Entwürfe für die Stadtplanung und für Kommune-Häuser.
Tatlin projektierte 1919 das berühmte Denkmal der III. Internationale – eine komplizierte Ingenieurskonstruktion mit beweglichen Räumen. Obwohl nicht gebaut, hat es mit seinem visionärem Potential und seiner dynamischen Formensprache die spätere Architektur des Konstruktivismus beeinflusst.
Während die beeindruckenden Bilder und Zeichnungen aus der Sammlung Costakis aus Thessaloniki deutlich machen, welche Rolle das Architektonische bereits in den frühen künstlerischen Entwürfen spielte, geben Vintageprints aus dem Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungsmuseum für Architektur A.W. Schtschussew in Moskau einen Eindruck vom architektonischen Aufbruch einige Jahre später.
Die historischen Photographien zeigen, dass die neuen Bauten nicht nur typologisch, sondern auch in ihren Dimensionen eine neue Zeit verkörperten: Sie überragten die alten urbanen Strukturen und waren ein Fanal der kommenden Industrialisierung und Umwälzung des Landes. Die Photographien des renommierten britischen Architekturphotographen Richard Pare wiederum führen den Betrachter in die Gegenwart.
Pare hatte 1993 begonnen, diese „verlorene Avantgarde“ wiederzuentdecken. Auf mehreren Reisen nach Moskau und nach St. Petersburg sowie durch die ehemaligen Sowjetrepubliken dokumentierte er, was von den Gebäuden noch erhalten ist. Seine Aufnahmen spüren deren Schönheit und den Erfindungsreichtum ihrer Erbauer auf und zeigen zugleich die Spuren des Verfalls.
Damit zeichnen sie auch ein Bild der postsowjetischen Gesellschaft, die sich ihres aussergewöhnlichen Erbes nicht bewusst ist.
Neu waren bei dieser Architektur nicht nur die Formensprache, sondern auch die Bauaufgaben: So entstanden mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft Arbeiterclubs, Gewerkschaftshäuser, kollektive Wohnanlagen, Sanatorien für die Werktätigen, staatliche Grosskaufhäuser, Partei- und Verwaltungsbauten, aber auch Kraftwerke und Industrieanlagen, um das Land zu modernisieren.
Der erste wichtige Bau nach der Revolution war der Schabolowka-Radioturm von Wladimir Schuchow. Er wurde von 1919-22 aus sechs übereinander montierten Hyperboloiden errichtet und war mit 150 Metern zu jener Zeit der höchste Turm in dieser Bauweise.
Seine elegante, filigrane Struktur wurde Symbol der Überwindung des Alten und Schweren. Rodtschenkos bekannte Photos des Radioturmes – heute Ikonen der Avantgardephotographie – betonen die Dynamik von unten nach oben. Pares Aufnahmen des Turmes zielen stärker auf die Details und rücken damit die Bauweise jener Zeit ins Blickfeld.
Die Leistungen russischer Ingenieure wie Schuchow beeinflussten mit ihren neuartigen technischen Konstruktionen die Entwicklung der Architektur, die den Funktionen entsprechend klare, geometrische Formen verwendete.
Im Verlaufe der 1920er Jahre zeichneten sich dann zwei entscheidende architektonische Strömungen ab: der Rationalismus und der Konstruktivismus. Die Vertreter der ersten Strömung gründeten 1923 die Assoziation neuer Architekten (ASNOVA), ihr Hauptvertreter war Ladowski.
Bei den Konstruktivisten spielte neben Alexander Wesnin Moisei Ginsburg eine grosse Rolle. 1925 vereinigten sich die konstruktivistischen Moskauer Architekten in der Gesellschaft moderner Architekten (OSA).
Daneben gab es auch andere Strömungen und herausragende Einzelgänger wie Konstantin Melnikow. Trotz polemischer Auseinandersetzungen zwischen den Strömungen hatte sich bis Ende der 1920er Jahre ein modernes Bauen konsolidiert.
Im Zuge der Industrialisierung des Landes im Rahmen des ersten Fünfjahrplanes 1928-32 wurde die Entstehung neuer Städte vorangetrieben.
Damit waren Fragen des Konzepts der Grosstadt verbunden, für die unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen wurden wie die „horizontalen Wolkenkratzer“ für Moskau von El Lissitzky oder die „Parabel“ als Grundschema der Stadtentwicklung von Ladowski.
Etliche der von Pare photographierten Gebäude wurden für kollektives Wohnen entwickelt. Der von Ginsburg und Ignati Milinis 1930 in Moskau errichtete Narkomfin-Wohnblock war eins der experimentellsten Projekte jener Ära.
Er enthielt neben Wohnungen auf zwei Etagen auch eine gemeinschaftlich betriebene Kantine, eine Kindertagesstätte, eine Sporthalle und eine Waschküche.
Weitere Bautypen zur Durchsetzung der kollektivistischen Lebensweise waren Grossküchen, von denen drei im damaligen Leningrad von einer Gruppe um Josif Meerzon, Vertretern des Rationalismus, erbaut wurden.
Arbeiterklubs und Kulturpaläste dienten vielfältigen Bildungsangeboten und symbolisierten im Stadtraum mit ihren dynamischen Formen die Rolle der neuen Klasse.
Als sich Mitte der 1930er Jahre das politische Klima in der Sowjetunion gravierend änderte und damit eine monumentale, sich am Klassizismus orientierende Bauweise protegiert wurde, endete dieses spannende Kapitel der Avantgarde und geriet in Vergessenheit.
Eine Ausstellung der Royal Academy of Arts London. In Zusammenarbeit mit dem Martin-Gropius-Bau Berlin und dem State Museum of Contemporary Art – Costakis Collection, Thessaloniki.
Mit Beteiligung des Schusev State Museum of Architecture, Moskau. Die Ausstellung wurde entwickelt für das SMCA-Costakis Collection, Thessaloniki und kuratiert von Maria Tsantsanoglou, David Sarkisyan und Hercules Papaioannou in Zusammenarbeit mit Richard Pare.
Ausstellung – Martin-Gropius-Bau
Baumeister der Revolution.
Sowjetische Kunst und Architektur 1915-1935
Mit Photographien von Richard Pare
05. April bis 09. Juli 2012
Niederkirchnerstr. 7 / Ecke Stresemannstr.
10963 Berlin
Buch: Baumeister der Revolution – Sowjetische Kunst und Architektur 1915−1935
Richard Pare, Maria Tsantsanoglou, Jean-Louis Cohen u.a.
Übersetzt von Peter Sondershausen
Mehring Verlag
270 Seiten mit ca. 250 Abbildungen
gebunden mit Schutzumschlag, 2011
Euro 39,90 D – 41,10 A
ISBN 978-3-88634-096-5
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→ Baumeister der Revolution – Sowjetische Kunst und Architektur 1915−1935, 14.03.2012