V on Andreas Boueke – Zu Beginn des Buches lesen sich die Erinnerungen der jungen Frau Sandra wie das Tagebuch eines humorvollen, klugen Mädchens, das ihren Alltag in Armut beschreibt. Ab und zu wecken die Schläge ihrer Mutter oder das plötzliche Auftauchen einer Pistole eine Vorahnung auf die Eskalation der Gewalt, zu der es einige Seiten weiter kommen wird. Aus dem Kind, das die Vorschule liebt, wird eine junge Frau, deren Leben ausser Kontrolle gerät.
Sandra ist ein bescheidener Mensch. Sicher hätte sie es sich nie auszumalen gewagt, dass eines Tages ein Buch mit ihrer Lebensgeschichte in Europa viele Menschen anrühren wird. Es ist ein ausserordentlicher Verdienst des Autors Andreas Böhm, dass er als geduldiger Zuhörer und dann als talentierter Textgestalter die Geschichte dieser Frau einem grösseren Publikum näher bringt.
Ich selbst recherchiere seit über zwanzig Jahren als freier Journalist auf dem amerikanischen Kontinent. Vieles von dem, was Sandra beschreibt, habe ich oft beobachten können. Aber der Horizont des Buches reicht weit über die trostlose Atmosphäre in ihrem kleinen Geburtsort Palencia hinaus. Das Nachwort von Andreas Böhm macht deutlich, dass es in dem Buch nicht nur um lokale Ereignisse geht, sondern auch um die Konsequenzen einer Globalisierung des Verbrechens, die bis heute durch verfehlte Politik gefördert wird.
Als Nebenfigur in Sandras Bericht taucht ein junger Mann auf, Lee-Vice. Als er noch ein kleiner Junge war, haben ihn seine Eltern aus Guatemala in die USA gebracht. In den Strassen von Los Angeles ist er auf die schiefe Bahn geraten. Er hat sich der Mara Salvatrucha angeschlossen. Nach einem Gefängnisaufenthalt wurde er von der US-amerikanischen Migrationsbehörde zurück nach Guatemala deportiert.
Die Figur von Lee-Vice zeigt, wie kurzsichtig die US-amerikanische Abschiebepraxis ist. Sie hat die Bandenkultur in die mittelamerikanischen Ländern El Salvador, Honduras und Guatemala exportiert. Strassengangs haben in Städten wie Los Angeles, Chicago oder New York eine Tradition, die bis ins vorletzte Jahrhundert zurückreicht. In Mittelamerika aber gab es bis vor kurzem noch keine solchen gut organisierten Jugendbanden.
In den achtziger Jahren haben sich mittelamerikanische Jugendlichen, die mit ihren Familien vor den Bürgerkriegen in ihren Geburtsländern geflohen sind, in den USA zusammengetan, um sich dort gegen die Gewalt anderer ethnischer Gruppen schützen zu können. So ist auch die Mara Salvatrucha entstanden. Erst auf den Höfen der US-amerikanischen Gefängnisse entstand die Hierarchie der Bandenmitglieder. Sie haben keine Fürsprecher in den USA. Kaum ein Politiker würde es wagen, sich für die Rechte von straffällig gewordenen Mittelamerikanern einzusetzen. So können die Behörden sie ungehindert in ihre Herkunftsländer abschieben.
Auf dem Flughafen von Guatemala-Stadt werden jede Woche Dutzende oder Hunderte Deportierte aus Flugzeugen gespuckt. Viele von ihnen haben kein Geld, keine Kontakte, keine Skrupel. Von der guatemaltekischen Regierung bekommen sie nichts geboten, keine Arbeitsplätze, keine Ausbildungschancen und keine Umschulungsprogramme. Welche Alternativen haben sie? Natürlich schliessen sich viele einer Bande an, in der sie Freundschaft und Unterstützung finden? Sie kommen in verarmte Stadtteile und versuchen, dort das Modell der Bandenkultur zu kopieren, das sie in den USA kennen gelernt haben. Dabei treffen sie auf eine durch und durch korrumpierte Polizei, die die Verbreitung von Drogen und Waffen häufig unterstützt, anstatt sie zu begrenzen. Zeitweise übernehmen die Banden die Kontrolle über ganze Wohngegenden, so dass sich immer mehr rechtschaffene Menschen entschliessen, vor der alltäglichen Gewalt zu fliehen. Viele versuchen, illegal in die USA zu gelangen. Es ist ein tragischer Zyklus.
Tagtäglich kann man in Mittelamerika und in den USA Artikel lesen, in denen die Mitglieder der Mara Salvatrucha als tätowierte Monster beschreiben werden. Aber auch diese Kriminellen haben anrührende Lebensgeschichten. In Sandras Bericht wird deutlich, wie aus liebenswerten kleinen Bengeln, die in Armut aufwachsen, gewalttätige Männer werden, die alle Skrupel abgelegt haben. In diesem Prozess verlieren sie ihre Hoffnung auf ein wenig Glück.
Teile der kleinen, wohlhabenden Schicht der guatemaltekischen Gesellschaft schotten sich ab von dieser Realität. Sie leben in Häusern hinter hohen Mauern, bewacht von privatem Sicherheitspersonal. Orte wie Palencia würden sie nie besuchen.
Manche kennen ihr Land überhaupt nicht, dafür umso besser die Strände der mexikanischen Tourismushochburg Cancún oder Disneyworld bei Miamai. Sie glauben nicht mehr an eine bessere Zukunft für ihr Land und interessieren sich nicht für das Schicksal der Bevölkerungsmehrheit.
Auch Sandra scheint resigniert zu haben. Aber sie kann es sich natürlich nicht leisten, in einem schicken Haus hinter hohen Mauern zu leben. Sie ist nach Palencia zurückgezogen, trotz der Lebensgefahr, der sie dort ausgesetzt ist. Andreas Böhm sorgt sich, dass er sie nicht wieder sehen wird, dass auch sie ermordet wird, genauso wie so viele ihrer Familienangehörigen zuvor.
Vielleicht wird dieses Buch ja in Europa zu einem so grossen Erfolg, dass man auch in Guatemala davon erfährt. Für Sandra könnte das einen Schutz bedeuten, und Mittel, mit denen sie für sich und ihre Kinder ein neues Leben beginnen könnte. Sie hätten es verdient.
Teuflische Schatten – Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha
von Andreas Böhm
Gebundene Ausgabe
Horlemann Verlag (Oktober 2011)
ISBN 978-3895023170
EUR 19,90
Erhältlich bei → amazon
Andreas Böhm
Teuflische Schatten erzählt die dramatische Geschichte zweier mutiger Frauen in Guatemala. Auf ihrer Suche nach Glück und Liebe geraten sie in den Strudel der Gewalt, die von einer der gewalttätigsten Jugendbanden dieser Welt ausgeht, der Mara Salvatrucha.
Diese Bande breitet sich seit Jahren einem Krebsgeschwür gleich von den USA bis nach Mittelamerika aus. Ritualmorde, Erpressungen und Raubüberfälle sind ihre Markenzeichen.
Die junge Sandra verliebt sich in Tino, ein Mitglied der Bande, und verbringt mehrere Jahre an seiner Seite, dem Tod oft näher als dem Leben. Ihre Mutter María Bernarda stemmt sich schon früh gegen diese Beziehung, denn sie ahnt die Bedrohung für ihre gesamte Familie. Sie arbeitet mit der Polizei zusammen und nimmt sogar aktiv an Gerichtsverfahren gegen Bandenmitglieder teil.
Ihren Mut muss sie im Jahr 2007 mit dem Leben bezahlen. Für Sandra ist dies der Scheidepunkt, an dem sie ihr jahrelanges Schweigen aufgibt und endgültig mit der Mara Salvatrucha bricht. Sie sagt gegen die Mörder ihrer Mutter aus, obwohl sie weiss, dass sie damit selbst zur Zielscheibe wird. Noch heute schwebt die mögliche Rache der Mara Salvatrucha wie ein böser Schatten über ihrem Leben.
Basierend auf zahlreichen Interviews, die der Autor Andreas Böhm mit Sandra López geführt hat, führt dieser biografische Bericht nach Guatemala, ein Land, das heute unter einer der weltweit höchsten Kriminalitätsraten leidet. Der Leser erfährt vom tragischen Schicksal einer Familie, das stellvertretend ist für ungezählte andere in Mittel- und Südamerika.
Andreas Böhm wurde 1965 in Bern in der Schweiz geboren. Heute lebt er als freier Autor und Journalist überwiegend in Guatemala, wo er auch Journalistik studiert hat.