S hahrokny: Im arabischen Raum passieren derweil Dinge, die man bis vor einigen Monaten für kaum möglich gehalten hat. Ich meine damit Umbrüche und Aufstände, die in Tunesien begannen und inzwischen viele Länder der Region erfassten. Ich würde gerne Ihre Analyse dazu hören.
Scholl-Latour: Es ist sehr schwer, denn in jedem Land ist im Grunde eine andere Situation und die Länder sind ja auch Grund verschieden.
Es hat erst einmal angefangen in Tunesien, womit niemand gerechnet hatte. Tunesier sind ganz friedliche Leute und es hat eben dort angefangen und dadurch ergriff Präsident Ben Ali die Flucht nach Saudi-Arabien. Und es ist in den anderen Ländern etwa ebenso verlaufen.
In Ägypten hat es grosse Kundgebungen auf dem al-Tahrir-Platz gegeben, aber die Sache ist noch nicht entschieden. Mubarak ist inzwischen unter Hausarrest, er liegt im Militärhospital.
Aber die Armee hat derzeit immer noch die Macht. Wie die Wahlen ausgehen werden, weiss man noch nicht, aber es sieht so aus, als würden sich Leute, die sympathisch und idealistisch sind, sagen wir bspw. gegen die gut organisierten Muslimbrüder nicht durchsetzen können.
Shahrokny: Was für einen Einfluss hat das Ausland, insbesondere das westliche Ausland, auf die gegenwärtigen Entwicklungen in diesen Ländern. Werden sie – wie manche meinen, von westlichem Ausland gesteuert?
Scholl-Latour: Dies ist wirklich nicht der Fall, das alles begann zur allgemeinen Überraschung. Es wundern sich auch die einheimischen Geheimdienste, die hatten nichts davon bemerkt.
Ich war vor gar nicht langer Zeit in Ägypten gewesen und niemand hatte daran geglaubt, dass es so kommen würde und es passt im Grunde der US-amerikanischen Politik gar nicht, denn mit Mubarak hatten die Amerikaner jemanden, auf den sie sich verlassen konnten und er machte ihre Politik mit und jetzt sehen wir doch eine Menge von Ungewissheiten und je nachdem, ob das Militär die Macht behält oder ob eine islamische Bewegung dort die Mehrheit gewinnt, wird sich dort einiges verändern und diese absolute Abhängigkeit von den USA, die es in Ägypten noch gibt, wird wahrscheinlich nicht andauern.
Shahrokny: Aber auf jeden Fall ist das Verhalten des westlichen Auslands diesbezüglich verschieden: Im Falle Libyens hat man sich ganz schnell für eine Militärintervention entschieden, im Fall Syriens ist man etwas zögerlich und schliesslich im Falle Bahrains, Jemens und Saudi-Arabiens unterstützt man sogar die jeweiligen Regierungen bei der Unterdrückung ihrer eigenen Völker.
Scholl-Latour: Das ist ein Zeichen der sogenannten “Realpolitik”. In Libyen hat man sich verschätzt. Man hat die Widerstandskraft von Gaddafi zweifelsohne unterschätzt und ist jetzt in eine Situation reingeraten, die sehr lange andauern kann. Das kann ein Bürgerkrieg werden, das kann ein Chaos werden. Wir wissen nicht, was dort in dieser Gegenregierung in Bengasi überhaupt passieren wird.
Diese ist auch in sich gespalten, wie man jetzt an der Ermordung des Generalstabschefs gesehen hat. Also, Libyen ist jetzt eine sehr gefährliche Angelegenheit, auch für den Westen.
Und dann kommt Syrien. In Syrien wagt sich niemand anzugreifen. Im Weltsicherheitsrat werden China und Russland wahrscheinlich auch weiterhin Vetos einlegen gegen eine mögliche Aktion und dann ist auch so, dass die Amerikaner sich in Irak, in Afghanistan und so weiter so verzettelt haben, dass sie nicht die geringste Lust versprüren, einen zusätzlichen Feldzug zu führen.
Sie haben in Libyen nur mit Zurückhaltung mitgemacht. Also, wir sind in einer ganz ungewissen Situation – vor allem, was Syrien betrifft, wird dies Konsequenzen für Israel haben. Das Regime Assads hat gegen Israel niemals etwas aktiv unternommen.
Shahrokny: Erlauben Sie mir, Herr Dr. Scholl-Latour, nur noch eine letzte Frage: Wie sehen Sie die weiteren Entwicklungen in diesen Ländern?
Scholl-Latour: Ja, die Amerikaner werden mit allen Mitteln versuchen, Saudi-Arabien stabil zu halten, als Gegenkraft zu Iran und das sagen sie auch ganz offen und dass sie deshalb die Besetzung von Bahrain zugelassen haben.
Ich war selber in Bahrain gewesen, dort gibt es wirklich eine schiitische Mehrheit, die gegen den dortigen König steht. Aber da ist die 5. US-Flotte stationiert und da ist eben die Befürchtung von der USA, dass der Einfluss Irans im Persischen Golf noch stärker würde als er schon ist.