V on Prof. Lawrence Davidson - Der US-Historiker Prof. Lawrence Davidson beklagt die Aushöhlung des Völkerrechts und wirft den US-Regierungen vor, durch ihr selbstsüchtiges, rücksichtsloses Verhalten wesentlich dazu beigetragen zu haben.
Teil I – Die Personalisierung des Nationalstaates
Eines der prägenden Kennzeichen der modernen westlichen Kultur ist die Individualität. Die meisten Menschen im Westen meinen, das Recht auf freie Rede und freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit sei ihnen garantiert. In der Praxis sind diese Rechte jedoch nicht unbegrenzt. Sie gelten, wenn Sie sich als Musiker, Maler, Filmemacher, Schriftsteller usw. äussern und entfalten wollen. Ebenso legitim ist Ihr Bedürfnis, sich als Ingenieur, Buchhalter, Busfahrer oder Automechaniker zu verwirklichen.
Die Dinge liegen aber ganz anders, wenn Sie den Wunsch haben, Ihre Persönlichkeit als Dieb oder Serienmörder verwirklichen zu wollen. Regeln in Form von Gesetzen verhindern die letztgenannten Entwicklungsmöglichkeiten.
Wenn Sie beschliessen, diese Gesetze zu ignorieren, werden die Polizei und die Justiz sich bemühen, Sie zur Einhaltung der Gesetze zu zwingen.
Man könnte das auch so ausdrücken: In Staaten oder Nationen müssen die Menschen ihr Recht auf Selbstverwirklichung auf Aktivitäten beschränken, die sich nicht auf schädigende oder unerwünschte Weise auf andere in der Gemeinschaft lebende Menschen auswirken.
Gegen Ende des 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts begannen Staatsmänner sowohl in etablierten Staaten als auch in nach Selbständigkeit strebenden Nationen die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung auch für Staaten und Nationen zu reklamieren.
Mit anderen Worten, sie forderten die gleichen Rechte, die bisher nur von Individuen beansprucht wurden, auch für Kollektive (also für Staaten oder Nationen) ein.
Dieses Eindringen aus der Romantik erwachsener Vorstellungen in die Politik führte zu einer Personalisierung der Nation. Man begann also, die Nation wie ein menschliches Wesen zu betrachten, was sie aber nicht ist.
Die französischen Revolutionäre sahen in “Frankreich” die wachsende Verkörperung der menschlichen Freiheit und betrachteten es als ihre Mission, die Freiheit auch in andere Länder zu exportieren. Deutsche Nationalisten wie Johann Gottfried Herder und Johann Gottlieb Fichte glaubten, die “deutsche Nation” sei von einem “Volksgeist” beseelt, der nach Freiheit dürste und einen vereinigten, selbständigen Nationalstaat wolle.
Italienische, russische und Nationalisten anderer Länder oder ethnischer Gruppen machten den gleichen Anspruch geltend. In allen Fällen führte der Anspruch, auch das Kollektiv habe als einzigartige kulturelle Persönlichkeit das Recht auf freie Entfaltung, zu ernsthaften und andauernden Problemen.
Teil II – Das Problem
Eine Hälfte des Problems besteht aus der ausserdem häufig beanspruchten “Einzigartigkeit”. Das ist die Behauptung, eine Nation habe Sonderrechte, weil ihre Kultur und ihre Bevölkerung höherwertiger seien als andere Kulturen und andere Völker und/oder weil sie von “Gott auserwählt” sei. Höherwertiger als andere zu sein, bedeutet, dass eine solche Nation, in dem Bemühen, ihre Einzigartigkeit durchzusetzen, Besitzansprüche auf ein “Heimatland” mit allen vorhandenen Ressourcen geltend macht.
Diejenigen, die diesen Ansprüchen im Wege stehen, werden vertrieben oder auf andere Weise verfolgt. Wenn eine solche Nation eine spezielle Gesellschaftsform entwickelt hat – die von der Demokratie, dem Kapitalismus, dem Kommunismus oder von einer bestimmten Religion geprägt sein kann – tendieren ihre Führer dazu, diese Gesellschaftsform mit anderen “teilen” zu wollen, gleichgültig, ob dieses “Geschenk” erwünscht ist oder nicht.
Deshalb sendet sie Missionare und Diplomaten aus, denen in der Regel Kanonenboote folgen. Aus dem Anspruch, höherwertiger zu sein, entstehen so häufig Imperien. Bei genauem Hinsehen stellt sich heraus, dass fast alle westlichen und nichtwestlichen Grossmächte in irgendeiner Form Einzigartigkeit für sich beanspruchen oder beansprucht haben.
Die zweite Hälfte des Problems liegt in der Tatsache, dass diese personalisierten Nationalstaaten ihr Recht auf Selbstverwirklichung in einer internationalen Arena durchzusetzen versuchen, in der es keine Regeln zur Korrektur dieses Verhaltens gibt.
Es fehlt eine Möglichkeit, sie effektiv zu zwingen, ihre Bestrebungen zur Selbstverwirklichung auf Aktivitäten zu beschränken, die keine schädlichen oder unerwünschten Auswirkungen auf andere Staaten oder Völker haben. Der traditionellen Diplomatie und herkömmlichen Verträgen zwischen einzelnen Staaten ist das jedenfalls nicht gelungen.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gab es nur die Genfer Konventionen, durch die man mit eher mäßigem Erfolg eine rücksichtsvollere Behandlung von Zivilisten und Gefangenen während eines Krieges erreichen wollte.
In den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts wurden sie aber weitgehend ignoriert. Aus dem Horror des Zweiten Weltkrieges erwuchsen neue Impulse für das Aushandeln durchsetzbarer internationaler Regeln und Gesetze, zum Beispiel gegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit; im Lauf der Jahre wurden diese aber wieder verwässert.
Auch dabei spielte der Anspruch auf Einzigartigkeit wieder eine ausschlaggebende Rolle. Wie das geschehen konnte, lässt sich am Beispiel des Internationalen Strafgerichtshofes / ICC erkennen.
Teil III – Die Aushöhlung des Völkerrechts
Der ICC wurde 2002 mit einem Gründungsvertrag geschaffen, der als Statut von Rom bekannt wurde. Das Gericht wurde zur Verfolgung von Kapitalverbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegründet.
Allerdings wurden schon in das Gründungsdokument zu hohe Hürden eingebaut. Unter anderem wurde die Zuständigkeit des Gerichtes auf Kapitalverbrechen beschränkt, die von einem Bürger eines Unterzeichnerstaates oder auf dem Territorium eines Unterzeichnerstaates begangen wurden.
Daneben ist das Gericht verpflichtet, alle Fälle zu untersuchen, die ihm vom UN-Sicherheitsrat zugewiesenen werden, unabhängig davon, ob der Beschuldigte einem Unterzeichnerstaat angehört oder nicht. Bisher sind 114 Staaten dem Vertrag beigetreten und haben sich damit der Zuständigkeit des ICC unterworfen. 34 Staaten, darunter auch Russland, haben den Vertrag unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Für sie ist das Gericht also noch nicht zuständig.
Weitere 44 Staaten, einschliesslich Chinas, haben den Vertrag bisher noch nicht einmal unterzeichnet.
Und schliesslich haben mehrere Staaten, darunter auch die USA und Israel, die den Vertrag unterstützt hatten, ihre Unterschrift wieder zurückgezogen und sich damit der Zuständigkeit des ICC entzogen.
Wie ist das zu bewerten? Es scheint so, als wollten die Führungen der Weltmächte China, Russland und USA nicht darauf verzichten, ihren Anspruch auf Einzigartigkeit weltweit durchzusetzen. Sie haben bereits andere Länder besetzt, Kriege im Ausland geführt und dabei Zivilisten umgebracht, oder planen, das in Zukunft zu tun.
Dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass Bürger der oben genannten Staaten schon Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord begangen haben oder noch begehen werden. Deshalb wollen diese Staaten ausserhalb der Zuständigkeit des ICC bleiben.
Die US-Regierung deckt sogar das kriminelle Verhalten der Israelis und hat sich deshalb auch zum Schutz israelischer Staatsangehöriger verpflichtet.
Wer sich die vom ICC bisher durchgeführten Strafverfahren anschaut, wird feststellen, dass sie alle gegen Angehörige kleinerer, meist afrikanischer Staaten durchgeführt wurden, die relativ machtlos waren und keine stärkere Schutzmacht hatten.
Und diese einseitige Entwicklung wird sich noch ausweiten, weil die USA und andere Grossmächte, die das Statut von Rom noch nicht einmal anerkannt haben, eine Möglichkeit entwickelt haben, den ICC als Waffe gegen von ihnen als feindlich eingeschätzte Staaten einzusetzen. Sie nutzen dabei die Vertrags-Klausel aus, die den ICC verpflichtet, auch Fälle zu verfolgen, die der UN-Sicherheitsrat an ihn überweist.
Diese heimtückische und heuchlerische Praxis hat kürzlich Stuart Littlewood in einem Artikel untersucht, in dem er Informationen und eine Analyse von Dr. David Morrison aus Irland verwendet hat. Hier sind einige der Sachverhalte wiedergegeben, die von den beiden aufgezeigt wurden:
1. „Obwohl Libyen nicht unter die Zuständigkeit des ICC fällt, hat der UN-Sicherheitsrat vor drei Monaten in seiner Resolution 1970 einstimmig beschlossen, die Situation in Libyen vom ICC untersuchen zu lassen. Fünf der Staaten, darunter auch die USA, die für diese Resolution stimmten, lehnen die Zuständigkeit des ICC für sich selbst ab.
Die USA gehören also zu den Staaten, die Libyen zwingen, sich der Rechtsprechung des ICC zu unterwerfen, sich aber gleichzeitig weigern, das auch selbst zu tun.“
2. Das ist eine Praxis, die nicht gegen Staaten wie die USA angewendet werden kann, weil diese mit ihrem Veto (im UN-Sicherheitsrat) „jeden Versuch der anderen Mitglieder des Sicherheitsrates, die Zuständigkeit des ICC zum Beispiel auch auf US-Bürger auszuweiten, blockieren können.“
3. David Morrison sagt dazu: „Nur ein Gericht, das die Verbrechen, für die es zuständig ist, ausnahmslos verfolgt, ist gerecht. Ein Gericht, dessen Zuständigkeit ein Staat anerkennen oder ablehnen kann, ist nur scheinbar gerecht.
Ein Gericht wie der ICC, dessen Zuständigkeit vom Willen des UN-Sicherheitsrates abhängt und nur auf missliebige Staaten ausgeweitet wird, auch wenn diese seine Zuständigkeit nicht anerkannt haben, ist äusserst ungerecht.“
Teil IV – Schlussfolgerungen
Es ist ein trauriger Höhepunkt der Heuchelei, wenn die USA, deren Regierende behaupten, das Geheimnis zur politischen und wirtschaftlichen Rettung der Welt zu kennen, nicht nur das Völkerrecht verletzen, indem sie andere Länder überfallen, sondern gleichzeitig aussergewöhnliche Anstrengungen unternehmen, um ihre eigenen Staatsangehörigen vor aus dem Völkerrecht erwachsenden Konsequenzen zu schützen.
Wenn US-Amerikaner zum Beispiel Kriegsverbrechen auf den Territorien von Staaten begehen, die das Statut von Rom anerkennen, könnten diese Staaten die Verbrechen vor den ICC bringen, und das Gericht könnte dann Strafverfahren gegen die betreffenden US-Bürger eröffnen.
Deshalb hat Washington bilaterale Vereinbarungen mit mehr als einhundert Staaten ausgehandelt, die diesen Staaten ausdrücklich verbieten, das zu tun. Kein Staat kann militärische Unterstützung von den USA erwarten, wenn er eine derartige Vereinbarung verweigert.
So verhält sich nur eine Regierung, die weiss, dass sie in kleinerem oder grösserem Ausmaß Verbrechen begehen will, und das Ausnahmerecht beansprucht, das ungestraft tun zu können.
Die Führer der USA tun das, weil sie die freie Entfaltung und Verbreitung des “American Way of Live” als Wohltat für die ganze Welt betrachten; viele US-Präsidenten haben das immer wieder bestätigt. Gott habe das so verfügt.
Dieses Vorgehen verrät eine extreme Hybris und erklärt, warum der Rest der Welt bestenfalls Hassliebe für die USA und alles empfindet, was sie zu verkörpern vorgeben.
Der bemerkenswerte englische Denker und Politiker Edmund Burke (1729 – 1797), hat einmal festgestellt: „Je grösser die Macht ist, desto grösser ist auch die Gefahr des Machtmissbrauchs.“
Was kann bedrohlicher und deshalb auch anfälliger für den Missbrauch der Macht sein, als Grossmächte, die in einer internationalen Arena das Recht auf freie Entfaltung beanspruchen und sich über alle Regeln hinwegsetzen? Deshalb ist in unserer heutigen Welt das Völkerrecht weitgehend ausser Kraft gesetzt.