Über 100 linke Israelis appellierten im vergangenen Monat an die deutsche Linkspartei, sich für einen gerechten Frieden im Nahen Osten einzusetzen.
→ Israels Linke fordert Druck von der SED/PDS/Linke
In einem offenen Brief an die Genossinnen und Genossen in der BRD mahnten sie eine solidarische Politik als Voraussetzung für die Durchsetzung einer friedlichen Lösung des Israel-Palästina-Konflikts an. In einer Antwort mit Datum vom 15. April 2010 räumt Norman Paech als erster Politiker der SED/PDS/Linke Defizite seiner Partei ein:
- von Prof. Dr. Norman Paech -
Liebe Genossinnen und Genossen,
ich habe mit grosser Sympathie eure kritischen und mahnenden Worte an uns gelesen, die „Lehren aus der deutschen Geschichte“ und die „besondere Verantwortung für den Konflikt“ angesichts seiner dramatischen Verschärfung neu zu überdenken.
Wer sollte mehr zu einer solchen Kritik und Mahnung legitimiert sein, als die Bürgerinnen und Bürger Israels selbst?
Euch treibt die Sorge um die europäische Politik, die gerade in dem Palästina-Konflikt maßgeblich von der deutschen Regierung beeinflusst und geprägt wird.
Mit Recht kritisiert ihr, dass diese Politik faktisch die israelische Besatzungspolitik rechtfertigt und aktiv unterstützt. Wenn auch in jüngster Zeit einige kritische Töne zu der Siedlungspolitik Netanjahus zu vernehmen waren, insgesamt konnten die Stellungnahmen und vor allem die aktiven politischen Maßnahmen von der israelischen Regierung nicht nur als wohlwollendes Wegschauen, sondern geradezu als Unterstützung ihrer offen völkerrechtswidrigen Politik verstanden werden.
Ich brauche euch keine Belege zu zitieren. Ich möchte euch aber auf einen weitgehend übersehenen Passus in dem Koalitionspapier der beiden Regierungsparteien CDU/CSU und FDP hinweisen, in dem sie sich nicht nur zur Garantie des Staates Israel, sondern eines jüdischen Staates Israel verpflichten, wie es auch Netanjahu seit seiner Koalition mit Liebermann fordert.
Dies stellt eine zusätzliche massive Bedrohung der palästinensischen Bevölkerung in Israel selbst dar, die nach jüngsten Entscheidungen des israelischen Kabinetts jetzt schon für Zehntausende Palästinenser im besetzten Westjordanland durch Ausweisung oder Festnahme Realität werden soll.
Diese fatale Komplizenschaft hat die Linke – und darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen – nie mitgemacht. Ihre Forderung nach Garantie des Staates Israel war immer von der gleichgewichtigen Forderung nach der Gründung eines souveränen palästinensischen Staates und Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen begleitet.
Dennoch verstehe ich eure Kritik, dass Die Linke insgesamt kein einheitliches und überzeugendes Bild der Kritik an der Regierungspolitik abgibt und vor allem keine Perspektiven für Alternativen zur Lösung des Konfliktes entwickelt hat.
Gelegentliche Reisen in die Region, durchaus kritische Berichte über die unhaltbaren Zustände dort und sporadische Presseerklärungen definieren keine ausreichende Politik – auch in der Opposition nicht – angesichts eines der längsten und schwersten Konflikte in der Welt, der weit über die enge Region und die Nachbarländer den ganzen Mittleren Osten seit Jahrzehnten destabilisiert.
Er hat nicht nur schon äusserst brutale Kriege produziert, sondern droht gerade jetzt einen Krieg gegen Iran mit weitaus katastrophaleren Auswirkungen auszulösen.
Die Position unserer Partei wird bestimmt nicht dadurch klarer, dass sie eine Arbeitsgemeinschaft wie den Bundesarbeitskreis Shalom und seine Landesorganisationen ohne deutliche Zurückweisung gewähren lässt, die die notwendige Kritik an der Politik Netanjahus regelmässig angreifen und zu diskreditieren versuchen.
Dies mag man als ein zweifelhaftes Zeugnis innerparteilicher Toleranz oder aber auch als Konsequenz der mangelhaften Diskussion in unserer Partei ansehen.
Ich teile eure Auffassung, dass die deutsche und europäische Nahostpolitik der vergangenen Jahre den Friedensprozess in keiner Weise gefördert, sondern zur Aufrechterhaltung der Besatzung und zur umfassenden Repression der palästinensischen Bevölkerung beigetragen hat.
Sie hat in der Tat, wie ihr schreibt, die „Militarisierungsprozesse, Erziehung zum Rassismus und zur Intoleranz“ in der israelischen Gesellschaft verstärkt. Sie hat zugleich verheerende Auswirkungen auf die palästinensische Gesellschaft gehabt.
Nicht nur Resignation und Depression, sondern auch Bruderkampf, Gewalt nach innen und aussen haben die palästinensische Einheit und die Position nach aussen in verhängnisvoller Weise geschwächt.
Angesichts dieser Schwäche der Palästinenser habe auch ich immer die Auffassung vertreten, dass Druck vor allem auf Israel ausgeübt werden muss:
Es muss nicht nur den Siedlungsbau stoppen, wie es jetzt zwar allgemein, aber ohne jeden Nachdruck gefordert wird, sondern sich aus den seit 1967 besetzten Gebieten zurückziehen, es muss die Annexion Ost-Jerusalems aufgeben, über die Zukunft der Flüchtlinge verhandeln und die Blockade des Gazastreifens beenden.
Dieses sind altbekannte, vom Völkerrecht getragene und von der UNO zigmal wiederholte Forderungen. Es stellt sich allerdings die Frage, warum die europäischen Staaten und die USA nicht willens sind, diese Forderungen gegenüber Israel durchzusetzen, obwohl sie politisch sehr wohl dazu in der Lage wären – und zwar durchaus zum Nutzen Israels.
Es gibt darauf verschiedene Antworten, die wir diskutieren müssten. Wichtiger in unserem Dialog ist jedoch hier die Frage, warum Die Linke entweder nicht die Einsicht oder nicht den Mut hat, in aller Konsequenz und mit allem Nachdruck gegenüber der eigenen und der israelischen Regierung auf die Durchsetzung dieser Forderung zu dringen.
Sie müsste sich dafür von einigen Tabus trennen, die die Regierungen aufgebaut haben: sie müsste z.B. das Ergebnis der Wahlen im Gazastreifen von 2006 anerkennen und die Blockade des Gazastreifens und der Hamas aufgeben, sie müsste die Politik der Regierung ablehnen, die durch wirtschaftliche Förderung die Besatzung nur erträglicher gestaltet, sie damit aber verfestigt, sie müsste den illegalen Import von Waren, die ganz oder teilweise in den besetzten Gebieten produziert werden, konsequent ablehnen und nicht durch eine falsche Boykottdebatte aus der Diskussion ausschalten, sie müsste sich uneingeschränkt für die Durchsetzung des Völkerrechts einsetzen, was auch bedeutet, dass die Verbrechen des Gazakrieges gerichtlich geklärt werden und der Goldstone-Bericht umgesetzt wird.
Richtig ist euer Vorschlag, dass dies vor dem Hintergrund einer neuen Debatte über die Bedeutung deutscher Verantwortung für das Geschehen im Nahen Osten geschehen muss.
Wichtig ist, dass ihr daran teilnehmt und niemand davon ausgeschlossen wird. Es gibt genügend Genossinnen und Genossen in unserer Partei, die an einer solchen Diskussion interessiert sind.
Ich werde mich mit ihnen dafür einsetzen, dass sie noch in diesem Jahr stattfinden kann.
Norman Paech, emeritierter Professor für Völkerrecht, war von 2005 bis 2009 Abgeordneter des Bundestages und aussenpolitischer Sprecher der Linksfraktion
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