B erlin/Frankfurt/Main – Im Anschluss an die antikapitalistischen Demonstrationen „Wir zahlen nicht für eure Krise“ verschiedener Gruppen am heutigen Samstag in Berlin und Frankfurt/Main verkündete die globalisierungskritische Organisation attac, dass sich an den Protesten viele Menschen beteiligt hätten, die zum ersten Mal an einer Demonstration teilnahmen. Dies hätten Befragungen der Demonstranten gezeigt. Es habe sich nicht um das „übliche Klientel von Sozialprotest-Demonstrationen“ gehandelt, erklärte ein attac-Sprecher.
Weiter heisst es in der Presseerklärung von attac:
„Die starke Beteiligung an den Demonstrationen zeigt, dass auch in Deutschland ein grosser Teil der Bevölkerung für eine soziale Form der Krisenpolitik eintritt, die die Kosten der Krise nicht auf die ärmeren Bevölkerungsgruppen abwälzt. Dies ist der Beginn einer Protestwelle. Die Profiteure müssen zur Kasse gebeten werden.”
Ermutigende Worte, die leider mit der Realität nichts zu tun haben. Sich politisches Versagen schön zu reden, und sich in der gesellschaftlichen Kommunikation nicht den Realitäten im Lande zu stellen, wird nicht zur Lösung der Krise beitragen. Die kapitalistische Krise verdeutlicht vor allem eines: die tiefe Krise der fragmentierten und konzeptlosen Linken selbst.
Wer solidarische Kritik übt – in der Absicht Defizite aufzuzeigen, um zu einer neuen Qualität in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, respektive linker Politik in Theorie und Praxis zu gelangen – wird schnell als Miesmacher, Wichtigtuer und Ähnliches tituliert. Der Grund hierfür: Ein breiter kritischer Diskurs um die Herausforderungen der Zeit wird nicht geführt.
Ein solcher ist unter den gegebenen Strukturen auch nur schwerlich möglich; die aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten rund 15.000 Demonstranten in Berlin und 10.000 in Frankfurt/Main setzten sich einmal mehr aus den “üblichen Verdächtigen” zusammen, aus Aktivisten der teilnehmenden Gruppen, wie diese jedes Jahr zu derlei Veranstaltungen pilgern – dem jährlichen Ritual der Szene.
Die verschiedenen Sekten der subjektiven Linken haben zwar kein Problem damit, sich zu Aufmärschen zusammen zu finden, eine strategische Kooperation im politischen Alltag findet jedoch nicht statt – weder inhaltlich, noch was die Schlüsselproblematik der Herausforderungen in der modernen Mediengesellschaft betrifft.
Mindestens 97 Prozent der Bevölkerung – jenseits der politisch aktiven Szene – hatten weder vor den heutigen Demonstrationen Kenntnis von den geplanten Aktionen, noch nehmen sie im Nachhinein die vermeintliche „Protestwelle“ überhaupt wahr.
Ebenso ist es für Otto Normalbürger völlig undurchsichtig, welche politischen und gesellschaftlichen Alternativen und Ziele dieser soziale Widerstand eigentlich konkret verfolgt und welches organisatorische Subjekt solche durchsetzen soll?
Denn unter der Woche sprechen hunderte Initiativen und Gruppen mit hunderten unterschiedlichen Zungen und treten hierbei in teils erbitterte Konkurrenz. Unterschiedliche Meinungen sind kein Problem, aber diese müssen in einem gemeinsamen Diskurs konstruktiv nutzbar gemacht werden.
Allein der sozialdemokratischen SED/PDS/Linke ist es möglich, aus diesem die Sinne benebelndem Stimmengewirr heraus zu ragen. Sie ist es, die in den Mainstream-Medien Berücksichtigung findet.
Erneut haben die heutigen Demonstrationen also aufgezeigt, dass es im Lande keine sozialistische Linke gibt, die in der Lage ist, in der Breite der Gesellschaft überhaupt gehört und wahrgenommen zu werden.
Diese Realität wird von sämtlichen Organisationen der subjektiven Linken schlichtweg negiert. Problematik und Herausforderungen werden nicht hinterfragt, der dringend notwendige breite, öffentliche Diskurs zu diesem Schlüsselthema wird nicht geführt.
Was ist also zu tun? Die sozialistische Linke muss endlich beginnen, ihre Hausaufgaben zu machen. Dem voran gehen müssen eine konsequente Bestandsaufnahme und Selbstkritik, die fundamental unser heutiges Selbstverständnis nebst Strukturen in Frage stellt.
Konkret brauchen wir eine neue sozialistische Partei – und auch einen neuen sozialistischen Gewerkschaftsbund, jenseits des bürgerlichen Machtgefüges.
Eine neue sozialistische Partei, die sich in diesen wesentlichen Herausforderungen nicht nachhaltig qualitativ von der subjektiven Linken unterscheiden würde, wäre in der Tat höchst überflüssig.
Jedoch wird es in Deutschland weiterhin keinen demokratischen und sozialen Fortschritt geben, solange die Organisationsfrage – und damit korrespondierend auch die Medienfrage und Corporate Identity – nicht gelöst werden.
Der konsequente Wille zur solidarischen Kooperation bildet den Kern der historischen Herausforderung. An dieser Frage wird sich die Spreu vom Weizen trennen, wird sich zeigen, wer es vorzieht, in seiner gesellschaftlichen Nische auf die Mumifizierung zu warten – oder aber tatsächlich bereit ist, den entscheidenden Schritt nach vorne zu tun.
Strukturen aufbrechen, Paradigmenwechsel herbeiführen, eine neue politische Identität und Kultur entwickeln und gesellschaftlich kommunizieren – ohne all dies wird alles beim Alten bleiben – und werden aufgewendete Kräfte weiterhin ins Leere laufen.
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