V on Fjodor Lukjanow (RIA Novosti) – Einige Ereignisse im scheidenden Jahr bieten Russland noch eine spannende Perspektive. Eines davon war die Debatte um Russlands mögliche NATO-Mitgliedschaft.
Westliche Medien zitierten angesehene Experten und ehemalige Politiker, die sich für einen solchen Schritt aussprachen. Die NATO-„Weisen“ mit der früheren US-Aussenministerin Madeleine Albright an der Spitze, die Empfehlungen zur neuen strategischen Konzeption der Allianz formulierten, hatten intensiv den NATO-Beitritt Russlands erörtert. Im Abschlussdokument fand die Frage jedoch keine Erwähnung.
Andererseits wurde dieses Thema auch in Russland nicht nur von prowestlichen Liberalen vom Institut für moderne Entwicklung, sondern auch von Offiziellen aufgeworfen. Nach dem Russland-NATO-Gipfel in Lissabon, der in freundlicher Atmosphäre verlaufen war, schlossen der Vizechef des Präsidialamtes, Wladislaw Surkow, und der Leiter des Departements für aussenpolitische Planung im Aussenministerium, Alexander Kramarenko, eine solche Entwicklung der Situation nicht aus. Was bedeutet das?
Selbst wenn es doch eine institutionelle Annäherung Russlands und der NATO zur Sprache kommt, bedeutet dies einen historischen Wendepunkt. Die Allianz hat offenbar ihre glorreichen Zeiten hinter sich: In der Ferne sind keine neuen Aufgaben für die NATO zu erkennen. Die NATO konnte sich nicht als „Weltpolizist“ etablieren, und in Europa, ihrem ursprünglichen Zuständigkeitsbereich, gibt es keine realen Sicherheitsprobleme – vielleicht abgesehen von der endgültigen Regelung der Beziehungen zu Moskau.
Die Lösung dieser Aufgabe (wobei beide Seiten zahlreiche Denkklischees überwinden müssen, um sich besser zu verstehen) könnte dem Bestehen der NATO als regionale Organisation wieder einen Sinn geben.
Auch Russland betrachtet die Allianz nicht mehr als die grösste Gefahr. Die Beziehungen zwischen Moskau und dem westlichen Militärbündnis sind ein Echo aus der Vergangenheit, das zwar noch lange weiter schallen kann, aber allmählich einen Missklang zu den Tönen der heutigen Welt bildet. Diese Töne lassen sich inzwischen aus einem ganz anderen Erdteil hören – und zwar aus Asien.
Die jüngsten Ereignisse auf der Koreanischen Halbinsel könnten sich als ein Vorspiel für weitere Aktionen entpuppen. Dabei geht es vor allem um die Spannungen zwischen den USA und China, deren Konfrontation nolens volens von der Entwicklungslogik angespornt wird. Das ist noch nicht vorbestimmt, aber wird immer wahrscheinlicher.
Für Russland könnte die Entwicklung der Situation in dieser Region eine entscheidende Rolle spielen, denn es kann sich unmöglich die Perspektive gefallen lassen, eine Wechselmünze im Spiel zwischen Washington und Beijing zu werden oder eine Vorderlinie der Konfrontation für eine der beiden Seiten zu bilden.
Demnach würde die institutionelle Annäherung Russlands und der NATO zwei Dinge bedeuten. Erstens würde das die Bewegung Russlands zu einer Organisation und einem geografischen Raum bedeuten, deren Rolle weltweit allmählich geringer wird. Zweitens könnten sich seine Beziehungen zu China anspannen, denn Beijing würde die Liebesaffäre zwischen Russland und der NATO in jedem Fall als gegen sich gerichtet betrachten, egal welche Argumente Moskau anführen sollte.
Im Grunde geriete die Volksrepublik in eine Situation, in der sich Russland erst noch vor kurzem wegen der Spekulationen um die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine befand – ganz zu schweigen vom in Lissabon erörterten gemeinsamen Raketenabwehrsystem, das China als gegen sich gerichtet werten könnte.
Moskau könnte eine Verschlechterung der Beziehungen zu einem grossen Nachbarn, dessen globaler Einfluss Prognosen zufolge zunehmen wird, nur dann akzeptieren, wenn es davon auf anderen Gebieten profitiert. Eine Situation, in der Russland Sicherheitsgarantien von der NATO bekommt, ist aber kaum vorstellbar, egal ob es um den Schutz seiner östlichen oder südlichen Grenzen gehen sollte.
Ganz im Gegenteil: Russland wäre im Falle seines NATO-Beitritts kein „Verbraucher“, sondern würde eher als „Garant“ der Sicherheit anderer Länder herhalten müssen, genauso wie heute die USA de facto die Sicherheit aller seinen Verbündeten garantieren.
Dies scheint derzeit ausgeschlossen zu sein, besonders wenn man das Verhältnis vieler neuer NATO-Mitglieder zu Russland bedenkt. Aber in den vergangenen 20 Jahren haben sich schon sehr viele Dinge ereignet, die zuvor nahezu unmöglich erschienen.
Im 21. Jahrhundert werden sich die militärpolitischen Gruppierungen wahrscheinlich anders als früher entwickeln. Bündnisse, die sich auf ideologische Werte stützten, gehören der Vergangenheit an. In den kommenden Jahrzehnten werden für die Sicherheit keine ständigen Bündnisse (wie die NATO) entscheidend sein, sondern zeitlich begrenzte Zusammenschlüsse für aktuelle Situation und konkrete Aufgaben. Die Aussage des früheren US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, dass „die Koalition durch die Mission bestimmt wird“, erwies sich als langlebiger als seine eigene politische Laufbahn.
Wäre es also sinnvoll, zusätzliche Verpflichtungen zu übernehmen und dadurch seine Handlungsfreiheit einzuschränken, um Mitglied irgendeines Bündnisses zu werden? Dadurch werden Möglichkeiten für eine Reaktion auf unerwartete Umstände reduziert, die zweifellos immer wieder entstehen werden. Wäre die Frage nach dem NATO-Beitritt Russlands vor zehn oder 15 Jahren aufgeworfen worden, dann hätte der Diskussionskontext anders ausgesehen.
Damals erschien die NATO als alternativloser Spitzenreiter im Sicherheitsbereich, während Russland zur Selbstbegrenzung bereit war und China keine entscheidende Rolle in der Welt zu spielen schien. Doch damals dachte kaum jemand daran. Heute gibt es zu viele neue Umstände.
Russland und die NATO müssen ihre Rivalität, die übrigens in vielerlei Hinsicht eher virtuell ist, überwinden, vor allem aber um Zeit und Kraft für die Regelung von Konflikten aus der Vergangenheit nicht zu vergeuden. Die Beendigung dieser Rivalität würde den wirtschaftlichen Fortschritt fördern, weil dadurch der unnötige Argwohn in den Geschäftsbeziehungen verschwinden wird.
Das hat jedoch wenig mit realen Sicherheitsfragen des 21. Jahrhunderts zu tun, die in ganz anderen Formaten behandelt werden müssen. Vor allem in der Dreier-Achse „Russland – China – USA“. Trotz den unterschiedlichen Interessen und Herangehensweisen haben diese Länder einen strategischen Wert, der sowohl im Mittleren Eurasien als auch im Fernen Osten oder im Pazifischen Raum zu Nutzen kommt.
Man sollte nicht erwarten, dass die europäischen Verbündeten Amerikas wegen des afghanischen Sumpfes an Spielen in weit entfernten Schauplätzen teilnehmen wollen. Welche Rolle dabei Russland spielen könnte, ist noch unklar und muss herausgefunden werden. Aber die NATO mit ihren aus der Vergangenheit stammenden Einstellungen und einer durchaus beschränkter Handlungsfähigkeit ist dabei kein richtiger Helfer.
Eher im Gegenteil …