J etzt ist es amtlich: Deutschland ist noch weit vom Ziel der Bundesregierung entfernt, fünf Prozent seiner Waldflächen einer natürlichen Entwicklung zu überlassen. Laut den Ergebnissen eines gestern in Berlin veröffentlichten Forschungsvorhabens sind es derzeit erst 1,9 Prozent, also weniger als die Hälfte.
„Das ist im internationalen Vergleich peinlich für die viertreichste Industrienation der Welt und ein Armutszeugnis für die Nachhaltigkeit im öffentlichen Wald Deutschlands“, so Gesche Jürgens, Waldexpertin von Greenpeace.
Auch unter Berücksichtigung der bisher geplanten weiteren Schutzgebiete wird das Ziel von 5 Prozent natürlicher Waldentwicklung verfehlt. Das Forschungsvorhaben kommt zu dem Schluss, dass bis 2020 nur 2,3 Prozent der Wälder einer natürlichen Entwicklung überlassen sind; nach 2020 erhöht sich die Bilanz auch nur auf 3 Prozent.
Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass nur 23 Prozent der Waldgebiete eine naturnahe Zusammensetzung der Baumarten aufweisen. Bei Buchenwäldern, die ihren Verbreitungsschwerpunkt in Deutschland haben, gibt es weiterhin Defizite.
Nicht nur bei der Quantität, auch bei der Qualität besteht beim Waldschutz daher grosser Nachholbedarf.
Der Umweltschutz-Hintergrund: Die 2007 beschlossene Nationale Biodiversitätsstrategie (NBS) sieht vor, dass bis 2020 fünf Prozent der Waldfläche aus der forstlichen Nutzung genommen und einer natürlichen Entwicklung überlassen werden.
Da sich der Wald in Deutschland etwa zur Hälfte in Privatbesitz befindet, soll dieses Ziel damit erreicht werden, dass zehn Prozent der öffentlichen Waldflächen aus der forstlichen Nutzung genommen und der natürlichen Entwicklung überlassen werden.
Der öffentliche Wald ist laut Bundesverfassungsgericht vorrangig verpflichtet, Umwelt- und Erholungsfunktionen umzusetzen.
Um zu ermitteln, wo Deutschland insgesamt auf dem Weg zur Zielerreichung steht, beauftragte das Bundesamt für Naturschutz das Forschungsvorhaben NWE5: Seit Dezember 2010 untersuchten die Nordwestdeutsche Forstliche Versuchsanstalt (NW-FVA), das Waldbau-Institut der Universität Freiburg und das Institut für Landschaftsökologie und Naturschutz (ILN), auf wie vielen Waldflächen in Deutschland bisher Motorsägen und Harvester dauerhaft „draussen bleiben“ müssen und inwiefern sich diese Flächen bis 2020 vergrössern.
Stärken und Schwächen der angewandten Methodik
Das NWE5-Projekt berücksichtigt den rechtlich abgesicherten, dauerhaften Schutz der Waldflächen. Damit werden nur Flächen anerkannt, auf denen eine dauerhaft natürliche Waldentwicklung auch wirklich sichergestellt ist.
Auch die Transparenz der Auswahlkriterien ist positiv zu bewerten. Kritisch ist allerdings die Anerkennung der Flächen bereits ab einer Grösse von 0,3 Hektar. Eine solche Mindestgrösse ist aus ökologischer Sicht fragwürdig, da die Randeffekte des umgebenden Wirtschaftswaldes und zusätzlich der gegebenenfalls angewandten Verkehrssicherungsmaßnahmen die Qualität solcher Kleinstflächen in Frage stellt.
Waldschutzgebiete ohne forstliche Nutzung sollten mindestens 200 Hektar vorweisen, ein sehr geringer Teil als vernetzende Trittsteine mindestens 5 Hektar. Kleinstflächen unter 5 Hektar sollten daher erweitert werden. Diese Flächen machen in der Bilanz der holznutzungsfreien Gebiete allerdings nur 5 Prozent aus.
Bei der Ausweisung weiterer Schutzgebiete muss allerdings darauf geachtet werden, dass sich der Anteil dieser Kleinstflächen nicht erhöht.
Forstlich ungenutzte Wälder sind unerlässlich, zum Beispiel für den Erhalt der natürlichen Artenvielfalt. So zeigen wissenschaftliche Forschungsergebnisse, dass besonders störungsempfindliche, waldgebundene Arten mit spezifischen Lebensraumanforderungen auf unbewirtschaftete Wälder angewiesen sind.
Darüber hinaus dienen forstlich ungenutzte Wälder dem Klimaschutz.
Für die Auswahl der zukünftigen Gebiete müssen daher strenge Kriterien gelten, vor allem hinsichtlich der Grösse der Waldschutzgebiete: So sind beispielsweise geschützte Einzelbäume oder Baumgruppen Bestandteil der integrativen Forstwirtschaft und dürfen nicht als Schutzflächen gezählt werden.
Auch für temporär unbewirtschaftete Flächen gilt, dass sie nicht dauerhaft einer natürlichen Entwicklung überlassen sind – diese „mobilen Schutzgebiete“ dürfen ebenfalls nicht auf die Ziele der NBS angerechnet werden.
Bundesländer im Vergleich – Nordosten vorbildlich, Bayern und Hessen Schlusslicht
Die vorgelegten Ergebnisse lassen zudem aufgrund von Gemeinhaltungsklauseln keinen Vergleich zwischen den Bundesländern zu. Berechnungen von Greenpeace auf Basis öffentlich zugänglicher Daten zeigen, dass als einziges Bundesland Mecklenburg-Vorpommern das 5-Prozent-Ziel bereits erreicht hat.
Andere Bundesländer haben sich hingegen die Erreichung der Waldschutzziele auf die Fahnen geschrieben, beispielsweise die Landesregierungen von Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Insbesondere grosse Waldbundesländer wie Bayern und Hessen sind jedoch noch weit vom Ziel entfernt, 10 Prozent ihrer Wälder zu schützen.
Die derzeitigen Landesregierungen dieser Länder verweigern offen eine Umsetzung.
Unbedingt müssen jetzt neue Nationalparke und andere grosse Gebiete mit natürlicher Waldentwicklung (grösser als 5.000 Hektar) eingerichtet werden. Dazu zählen die geplanten Nationalparke im Hochwald (RP), im Schwarzwald (BW) und im Steigerwald (BY).
Ausserdem sollten grosse Gebiete im Spessart (BY), Ammergebirge (BY), Egge/Sennegebiet (NRW), Rheingaugebirge (HE), Reinhardswald (HE), Solling (NS) und im Südharz (NS) eingerichtet werden.
Jetzt dringend handeln: Bundesweite Schutzgebiete für die Buchenwälder
Maßnahmen zur Behebung der Defizite sind dringend geboten: Insbesondere der ökonomische Druck auf die ökologisch bedeutsamsten Buchenwald-Gesellschaften, die nur noch maximal 200.000 – 300.000 Hektar in Deutschland ausmachen, muss genommen werden.
In einem Bund-Länder-Aktionsprogramm müssen nun die zu schützenden öffentlichen Waldflächen identifiziert und in einem transparenten Verfahren der natürlichen Entwicklung durch einen rechtlichen Schutzstatus überlassen werden.
Um alle natürlich vorkommenden Waldgesellschaften zu erhalten, ist ein Schutzkonzept erforderlich, dass forstlich ungenutzte Waldgebiete verschiedener Grössenordnungen miteinander vernetzt. Ein 2011 veröffentlichtes Gutachten im Auftrag von Greenpeace macht einen Vorschlag für ein Konzept zum bundesweiten Buchenwälderschutz.
Bei der Ausweisung neuer Waldschutzgebiete sollten vor allem alte, naturnahe Buchenwälder berücksichtigt werden, da sie besonders wertvoll für den Erhalt der natürlichen Artenvielfalt sind.
Derartige Potenzialflächen sind allerdings rar: nur noch zwei bis drei Prozent der deutschen Wälder sind alte Buchenwälder über 140 Jahre.
Damit diese Gebiete nicht beschädigt werden, bevor feststeht wo zukünftige Schutzgebiete liegen, fordert Greenpeace einen befristeten Einschlagsstopp für über 140 Jahre alte öffentliche Buchenwaldbestände.