Vietnam – Sie sahen alle gleich aus

Kill Anything That Moves - Buchbesprechung von Matthew Harwood

- von Presseticker  -

K ill Anything That Moves (Tötet alles was sich bewegt),
Autor Nick Turse, 2013

Am 18. August 1980 sprach der republikanische Präsidentschaftskandidat Ronald Reagan zum Nationalkonvent der Veteranen von Kriegen im Ausland. In seiner Rede ging Reagan auf eine Krankheit ein, welche die USA plagte: “das Vietnam-Syndrom”.
Der Gipper argumentierte, dass infiziert durch die nordvietnamesische Propaganda die US-Amerikaner überzeugt worden seien, dass die USA eine imperialistische Macht sind, die einen unmoralischen und nicht gewinnbaren Krieg in Vietnam führt. Dieser Glaube beziehe sich allerdings nicht nur auf Vietnam, er sei in das US-amerikanische Bewusstsein eingedrungen und bewirke, dass die Öffentlichkeit sich gegen die Anwendung von Gewalt beim Vorgehen im Ausland richte.
Er, Reagan, habe jedenfalls nichts gemein mit einer derartigen Schwäche, die sich maskiere als moralische Einsicht und Ungewissheit. Er sagte den versammelten Veteranen, dass es an der Zeit sei, eine reinigende Wahrheit zu erkennen: „unsere … war eine noble Sache“.

Wie hätte sie es auch nicht sein können, wo doch die USA in den Dschungeln Vietnams viel mehr verloren hatten als das Selbstvertrauen. „Wir entehren das Andenken an 50.000 junge US-Amerikaner, die in dieser Sache starben, wenn wir Schuldgefühle zulassen, als hätten wir etwas schändliches getan“, sagte Reagan zu den anwesenden Veteranen.
Kriegsverbrechen wie das Massaker von My Lai, wo eine Einheit von Soldaten der USA im März 1968 rund 500 alte Männer, Frauen und Kinder abschlachteten, waren ein schreckliches, aber dennoch minimales Nebenprodukt eines gerechten Krieges.

Wenn Reagans Vietnamsyndrom eine chauvinistische hinterwäldlerische Falschdiagnose dessen ist, warum das US-amerikanische Volk des Krieges in Indochina überdrüssig wurde, dann ist Nick Turses Kill Anything That Moves (Tötet alles, was sich bewegt) eine Abrechnung, wieviel Tod und Zerstörung die USA den Vietnamesen zufügen mussten, um diese Krise des Glaubens an den US-amerikanischen Messianismus zu erreichen.
My Lai, so macht Turse klar, war keine blutige Ausnahme in einem prinzipientreuen Krieg zur Abwehr der kommunistischen Expansion: es war die grauenhafte Regel.

„My Lai war eine Operation, keine Aberration (Abweichung)“, stellt Turse kurz und bündig am Ende seines beklemmenden Buchs fest. „Das war der Krieg, in dem das US-amerikanische Militär und die Administrationen in Washington nicht ein paar zufällige Massaker oder einzelne Abläufe von Gräueln produzierten, sondern etwas in der Grössenordnung von tausenden Tagen voll von erbarmungslosem Elend – ein wahrhaftes System des Leidens.
Dieses Buch soll dieses System, diese Maschinerie des Leidens erklären und was sie für das vietnamesische Volk bedeuteten.“

In vielfacher Beziehung hat Turses Projekt viel von dem revisionistischen Historiker Howard Zinn an sich. In A People´s History of the United States (Eine Volksgeschichte der USA) betrachtete Zinn die US-amerikanische Geschichte durch die Augen des Sklaven, des einfachen Arbeiters, des Wehrpflichtigen und anderer Menschen, die leicht aus akademischen und volkstümlichen Geschichten herausgelöst werden können.
Turse macht dasselbe, internationalisiert es aber und unterlegt es mit vor-Ort-Reportage durch Interviews mit Überlebenden und Veteranen. Das Ergebnis ist ein albtraumhafter Einblick, wie diejenigen auf der Empfängerseite des US-amerikanischen Napalms, der Daisy-Cutter-Bomben und der M-16-Kugeln litten, starben, und, erstaunlich, überlebten und ihre Geschichte erzählen. Es ist eine bemerkenswerte, wenn auch ungemein makabere Synthese von Geschichte und Journalismus.

Turses grösste Leistung ist der Nachweis, wie sehr die “Faule Äpfel-Theorie” betreffend die US-amerikanischen Gräueltaten in Vietnam bis ins Innerste verrottet ist. Die ständigen Massaker und Exekutionen von unschuldigen Zivilisten waren nicht Ergebnis von gestressten, unreifen Soldaten, – obwohl das sicher eine Rolle spielte – sondern der offiziellen Politik, die die Befehlskette herunter floss.
Bevor die Befehle erteilt werden konnten, mussten diejenigen, die sie bekamen – „selbst noch nicht weit von der Kindheit entfernt“ – darauf vorbereitet werden.

Ausbildungslager bedeutete Enthumanisierung des Rekruten und seines Feindes. Die Bestrafung für die Nichtbefolgung von Befehlen „bestand sowohl aus psychologischer Erniedrigung als auch in physischem Leiden – alles vom Zwang, Müll zu essen, bis zu Übungen bis zum Zusammenbruch“.
Die Vietnamesen einschliesslich der Südvietnamesen, welche die USA angeblich verteidigten, liefen unter der Bezeichnung “gooks” und “dinks”. Wie der Wehrdienstpflichtige Peter Milord sagte: „Ich wurde nicht zum Roboter, aber du kannst diesem Zustand so nahe kommen, dass es erschreckend ist.“

Sobald sie “im Land” waren, wurde diesen Burschen gesagt, dass niemandem – nicht einmal Kindern und Frauen – getraut werden konnte. Wie ein Veteran Turse sagte: „Der Feind ist jeder mit Schlitzaugen, der in dem Dorf wohnt. Es macht keinen Unterschied, ob es eine Frau oder ein Kind ist.“
Oder wie Marine Captain Edward Banks beschrieb, wie zwischen einem Guerillakämpfer und einem Zivilisten unterschieden wurde: „Sie sahen alle gleich aus.“

Das bedeutete, dass die US-amerikanischen Streitkräfte zuerst schossen – sei es mit Mörsern, Granaten oder Kugeln – und danach die Antworten suchten. Fehler konnten immer korrigiert werden. Eine Frau, ein alter Mann, ein kleines Kind, ganz egal, alle wurden zu Viet Cong oder “VC”, wenn die Berichte abgeliefert wurden.
„Wenn es tot ist und vietnamesisch, ist es VC“, war ein allgemein gängiges Sprichwort unter US-Soldaten in Vietnam.

Der vielsagende Beweis dieser verbrecherischen Arithmetik, so Turse, waren hohe Zahlen von getöteten Feinden und niedere Zahlen von geborgenen feindlichen Waffen, die sogenannte kills-to-weapons-ratio (Tötungen-zu-Waffen-Verhältnis).

In der Operation Speedy Express von Dezember 1968 bis Mai 1969 – von Turse als “Mega-My-Lai” bezeichnet – tötete die 9. Infanteriedivision laut Berichten 10.899 feindliche Soldaten, wobei sie nur 748 Waffen sicherstellte.
Eine andere Methode war es, die Anzahl der getöteten Feinde durch die Zahl getöteter US-Amerikaner zu dividieren. Wenn das Verhältnis sehr hoch auf Seiten der getöteten Feinde war, so stellt Turse fest, konnte man davon ausgehen, dass diese getöteten Guerillas Zivilisten waren.
Solche Unterschiede waren mit der MGR, der “mere-gook rule” (nur-gook-Regel) nicht feststellbar. Die MGR, erklärt Turse, „ging davon aus, dass alle Vietnamesen – nördliche, südliche, Erwachsene und Kinder, bewaffnete Feinde und unschuldige Zivilisten – wenig mehr zählten als Tiere, die nach Belieben getötet oder misshandelt wurden“.

Die Politik des Militärs machte zivile Opfer unvermeidlich. Die technokratischen Kriegsherren im Pentagon glaubten an einen “Übergangspunkt”, der dann eintrat, wenn die US-amerikanischen Soldaten ihre Feinde schneller töteten, als diese ersetzt werden konnten. Das führte jedenfalls zu einer Besessenheit, die auf die Erreichung hoher Zahlen von getöteten Feinden ausgerichtet war, sogenannter “Produktionsquoten”, was einen Anreiz für das willkürliche Töten schaffte und die Verfälschung der Statistiken, indem man einen unschuldigen Zivilisten wie etwa ein junges Mädchen zu einem Guerilla machte.
Die Offiziere waren auf hohe Opferzahlen aus, um schneller befördert zu werden, während das Fussvolk Tötungen meldete für Urlaubs- und Erholungsscheine und andere erbärmliche Vorteile wie Extrabier.

Die offizielle Politik des Pentagon wie “Freifeuerzonen” und “Such- und Zerstör-Einsätze” gewährleistete darüber hinaus Massaker an der Zivilbevölkerung. Wie eine gering geschätzte Polizei, die das Ghetto patrouilliert, entschieden die US-amerikanischen Soldaten, dass jeder Vietnamese, der vor ihnen davonlief, etwas angestellt hatte.

Buch: Kill Anything That Moves von Nick Turse

Buch: Kill Anything That Moves von Nick Turse

US-Massaker in My Lai, Vietnam 1968

US-Massaker in My Lai, Vietnam 1968

Laufende wurden oft gleich erschossen, wie Turse ausführlich dokumentiert. Manchmal erfolgten die Metzeleien einfach je nach Laune der Patrouille.

Der Dorfbewohner Phan Van Nam schilderte Turse, dass an manchen Tagen US-amerikanische und alliierte koreanische Soldaten durch sein Dorf kamen und Süssigkeiten verteilten oder nichts anrührten.
An anderen Tagen schossen sie auf Menschen oder verbrannten alle Häuser. Am 22. März 1967 kamen koreanische Soldaten mit einigen US-Amerikanern in Nams Dorf, trieben einen Haufen Dorfbewohner zusammen und massakrierten sie alle.
Hinterher lagen 45 Kinder, 30 Frauen und 11 ältere Männer tot da. Das gesamte Buch führt jede Menge Vorfälle dieser Art an, es ist so brutal und unerbittlich, wie es sein sollte.

Der Titel des Buches stammt von einem von einer Vielzahl von Offizieren in Vietnam immer wieder gebellten Befehl: „Tötet alles, was sich bewegt!“
Herzen und Hirne gewinnen war das nicht. „Auf die Weise, wie diese Menschen behandelt werden, schaffen wir mehr VC als wir töten“, schrieb Marinesoldat Ed Austin seinen Eltern nachhause. „Ich gehe nicht ins Detail, aber einige der Dinge, die hier vorgehen, würden bewirken, dass ihr euch für das gute alte Amerika schämt.“

Diese Gräueltaten wurden geschmiert von einem Pentagon, das Vietnam in ein Labor für Gemetzel, in eine technokratische Horrorshow verwandelte, laut Turse.
General William Westmoreland, der oberste Befehlshaber der USA in Vietnam von 1964-1968, „feierte das Land als Waffenlabor“.

Die USA verbrauchten das Äquivalent von 640 Hiroshima-Atombomben an Munition in Südostasien – die Mehrheit davon landete in den Städten und Landgebieten Südvietnams (Nicht vergessen: das selbe Südvietnam, das die USA verteidigten, verwandelten sie in ein verbranntes Ödland.)
Per Ende des Krieges hatte Amerika über 15 Milliarden Pfund an Artilleriemunition verschossen. Andere Waffen im Bestand der USA inkludierten Napalm, weissen Phosphor und Clustermunition.
Die riesige Menge Feuerkraft, darunter giftige Entlaubungsmittel wie Agent Orange, welche auf die südvietnamesischen ländlichen Gebiete – das Gebiet, das die USA verteidigten – herabregnete, führte zu einem Ökozid. In Anlehnung an den Smokey the Bear-Werbeslogan scherzten die Soldaten der USA: „Nur du kannst Wälder verhindern.“

Um ihren Feind weiter zu demoralisieren, setzten die USA nicht nur Waffen ein, die ihre Feinde in Fetzen zerrissen oder verkohlen liessen. Statt dessen waren in besonderem Ausmaß viele der Waffen, welche die US-Amerikaner nach Vietnam brachten, eigens dafür konzipiert, um Menschen zu verstümmeln und ausser Gefecht zu setzen, aufgrund der Theorie, dass furchtbar verwundete Menschen mehr feindliche Ressourcen aufbrauchen als direktes Töten, berichtet Turse.
Diese Waffen waren bekannt als Splittermunition, welche nach dem selben Prinzip funktionierten wie die Bombengürtel der Selbstmordattentäter, „sie schleuderten kleine Fragmente – kleine Stahlkugeln und rasierklingenscharfe Splitter – welche den menschlichen Körpern unermesslichen Schaden zufügten“.

In einem besonders atemberaubenden Abschnitt beschreibt Turse einfühlsam, wie man gefühlt haben muss unter der erstickenden Decke des US-amerikanischen Staatsterrorismus.

Leben wurde zu einer Übung in Prozentrechnung. Wie lange bliebst du in deinem Bunker? Lange genug, um der Artillerie zu entgehen, natürlich, aber nicht so lange, dass du noch immer da warst, wenn die US-Amerikaner und ihre Granaten eintrafen.
Wenn du den Schutz des Unterstands zu früh verliessest, könnte das Maschinengewehr eines Helikopters auf dich schiessen, wenn du herauskamst, oder du konntest in der Feuerzone zwischen sich zurückziehenden Guerillas und anstürmenden US-amerikanischen Soldaten hängen bleiben. Wenn du zu lange wartest, könnten diese Granaten hereinzurollen beginnen.
Jede Sekunde war immens wichtig. Ein Augenblick zu spät konnte Tod bedeuten, aber eine Sekunde zu früh war unter Umständen nicht weniger tödlich. Schätze falsch, und deine Familie könnte ausgelöscht werden…
Unter solchen Umständen wurde die Existenz zu einer endlosen Serie von Risikoeinschätzungen.

Wenn man eine blutdurchtränkte Seite nach der anderen liest, ist es schwer zu glauben, dass dieses Buch und besonders die persönlichen Interviews mit vietnamesischen Überlebenden Turse nicht ausserordentlich belastet haben – einen Autor, der, wie der obenstehende Abschnitt zeigt, ganz eindeutig entschlossen ist, Zeugnis für unvorstellbare Gräuel abzulegen.

Es ist auch unmöglich, Kill Anything That Moves ohne den Eindruck zu lesen, dass die Dokumente, die Turse vorlegt, der Prolog zu den heutigen Kampagnen der Aufstandsbekämpfung unter der Führung der USA sind.
Es ist unheimlich,wie die selben Bedingungen, die in Vietnam von Gräueltat zu Gräueltat führten, in unseren derzeitigen Kriegen in Afghanistan und Irak existieren.

Junge US-Amerikaner, den Kopf noch voll mit 9/11, überfielen und besetzten Länder, die ihnen in jeder Beziehung völlig fremd waren, sei es bezüglich Religion, Sprache oder Gebräuchen.
Wenn die Kriege in Afghanistan und Irak ihren unweigerlichen Weg in das US-amerikanische Gedächtnisloch antreten, wird es an einem weiteren Journalisten und Historiker wie Turse liegen, die Geschichten unschuldiger Afghanen und Iraker festzuhalten, die unter US-Amerikas technologisch barbarischer Übermacht gelitten haben.
Es wäre nicht fair, von ihm zu erwarten, dass er das noch einmal macht.

Als US-Amerikaner sagen wir uns im Zwielicht selbst bestimmte Dinge vor – dass wir aussergewöhnlich sind, dass wir aufrichtig an die Menschenrechte glauben. Die gedämpften Wiegenlieder begleiten uns in den Schlaf in unseren Sackgassen der Selbstgefälligkeit, während sich in Übersee das Reich in alle Richtungen ausdehnt.
„Und weil wir schon dabei sind“, sagte Reagan vor drei Jahrzehnten, was heute von seinen selbsternannten Gefolgsleuten weitergetragen wird, „sagen wir denen, die in diesem Krieg gekämpft haben, dass wir nie wieder von jungen Männern verlangen werden, in einem Krieg zu kämpfen und möglicherweise zu sterben, von dem unsere Regierung Angst davor hat, sie gewinnen zu lassen“.

Turses Anklage des US-Krieges in Vietnam zeigt, wie irregeführt, wenn nicht ganz und gar soziopathisch Reagans Äusserung war, denn sie führt zu der Frage:
Gäbe es ein Vietnam in einer erkennbaren Weise, wenn die Weissen Häuser Johnsons und Nixons „sie gewinnen hätten lassen“?

Das Vietnamsyndrom war keine Krankheit, welche die Politik befallen hatte, es war ein Antikörper, erzeugt, um den Imperialismus zu bekämpfen.
Leider, wie Afghanistan, Irak, Pakistan, Libyen, Somalia und Jemen zeigen, sind wir wieder einmal gegen das Vietnamsyndrom resistent geworden.

Es ist schwer, Turse zu lesen und nicht zu fragen, welche ausserordentlichen Verbrechen ans Tageslicht kommen werden, wenn ein weiterer mutiger Journalist die Decken von Amerikas jüngsten Okkupationen Afghanistans und des Irak zieht.

Aufgrund seines unbeirrbaren Blicks in das schwarze Herz der Pax Americana, und was Krieg, jeder Krieg den Menschen antut, die in ihm kämpfen, und den Zivilisten, die versuchen, ihn zu überleben, ist Kill Anything That Moves ein heroisches, essentielles Buch für ein Land, das fortwährend den Männern und Frauen des Militärs für ihren Dienst dankt, sich aber keinen Deut darum schert, was zu diesem Dienst alles dazugehört.

Kill Anything That Moves
von Nick Turse
Englisch, Gebundene Ausgabe 370 Seiten
Verlag Henry Holt & Company
ISBN-10: 0805086919
ISBN-13: 978-0805086911
EUR 21,90

RF/antiwar.com – Übersetzung antikrieg.com

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