I n der Nacht vom 22. auf den 23. November war das Zentrum von Kairo erneut Schauplatz einer dramatischen Konfrontation zwischen den Protagonisten der Demokratiebewegung und den Apparaten des Regimes. Die Szenen erinnern an die Jännertage, jedoch diesmal unter dem Schweigen der Medien und mancher politischer Kräfte, die auf Kosten der Massenbewegung den Kompromiss mit dem Militärrat suchen.
Die Proteste entflammten am Abend des 19. November, als die Sicherheitskräfte eine Kundgebung von 200 Invaliden vom Jänneraufstand gewaltsam sprengte.
Nach einem Hilferuf eilten Aktivisten zum Tahrir. Die exzessive Gewalt der Polizei provozierte weitere Proteste und führte zu einer erneuten Dauerbesetzung des Platzes. Bei den Versuchen der neu formierten verhassten zentralen Sicherheit sowie der Armee, die wachsende Kundgebung am Tahrir zu sprengen, sind bis Dienstag Abend 35 Personen ermordet und tausende verletzt worden. Viele der Verletzungen sind dem massiven Einsatz von aggressivem Tränengas zuzuordnen. Augenzeugen beschreiben, wie die Straßen der Innenstadt vom Tränengasstaub weiß bedeckt sind.
Die meisten Toten sind jedoch durch scharfe Munition ums Leben gekommen. Durch den Einsatz von Schrotflinten in Kopfhöhe verloren mehrere Aktivisten die Augen. Darunter sind bekannte Blogger und Journalisten, die vermutlich gezielt angeschossen wurden. Unter den Verletzten ist Dr. M. Harraa, der bei den Protesten im Jänner ein Aug verlor und am 19. November das zweite Aug einbüßen musste.
Die neu formierten Sicherheitsapparate verhalten sich genau wie zu Zeiten Mubaraks, verfügen jedoch über bessere Waffen und aggressivere Gase. Es kam zum Einsatz von CR-Gas, das von der US-Armee als Kampfgas betrachtet wird und sonst nur von der israelischen Armee gegen palästinensische Demonstranten verwendet wird.
Moslembrüder distanzieren sich und setzen auf kommenden Wahlen
Für die Moslembrüder, die bei den Parlamentswahlen am 29. November einen großen Sieg und dadurch eine Beteiligung an der Macht erwarten, kommen diese Ereignisse sehr ungünstig. Es wird sogar vermutet, dass der Militärrat die Konfrontation provozierte, um die Wahlen zu verschieben. Die Anführer der Moslembrüder riefen anfangs zur Beendigung der Proteste auf und drohten, diese selbst durch Gegendemonstrationen zu beenden. Als die Proteste eskalierten, versuchten sie die Protestierenden vor Ort zu überzeugen, den Platz zu räumen. Dabei wurden sie auf demütigende Weise vom Platz vertrieben. Es dauerte Tage, bis sie klare Worte gegen das Vorgehen der Militärs finden konnten. Als die Tahrir-Kräfte zu einer Millionenkundgebung am Dienstag aufriefen, verweigerten sie die Teilnahme.
Für die Tahrir-Bewegung sind die kommenden Parlamentswahlen jedoch auf mehreren Gründen nichts als eine Farce:
das Parteiengesetz erschwert die Gründung von Parteien und Wahllisten und macht diese nur für finanziell starke Gruppen möglich;
das Wahlsystem mit der gemischten Personen- und Listenkandidatur bedeutet eine Aufteilung der Wahlkreise zwischen einerseits Großparteien und andererseits traditionellen Regime-nahen Persönlichkeiten;
der angesetzte Wahltermin ist für die meisten Teile der Demokratiebewegung zu früh, die nach Jahren der Repression durch Mubarak ihre Kräfte erst organisieren müssen;
das gewählte Parlament ist gegenüber dem Militärrat praktisch machtlos.
Die Bewegung am Tahrir fordert daher den Rücktritt des Militärrats und eine Regierung aus Zivilisten, welche die Übergangsphase verwalten soll. Die neue Verfassung soll von einer konstituierenden Versammlung geschrieben werden und als Basis für die nächsten Wahlen dienen.
Angesichts der jüngsten Ereignisse würden Parlamentswahlen, bei denen die Hauptkräfte der Bewegung nicht vertreten sind, nur zu einer weiteren Eskalation führen.
“Versöhnungsrede” als Angriffsbefehl
Unter dem Druck der Massenkundgebung am Dienstag, 22. November, zu der sich trotz des Boykotts seitens der Moslembrüder und der meisten islamistischen Kräfte über eine Million Menschen am Tahrir-Platz einfanden, war der Vorsitzenden des regierenden ägyptischen Militärrats, General Tantawi, nach mehrtägigem Schweigen gezwungen, Stellung zu nehmen. Die Massen forderten den Rücktritt des Militärrats und die Übergabe der Macht an eine zivile Übergangsregierung.
Während das Staatsfernsehen Tantawis Rede ankündigte, fanden Treffen zwischen dem Militärrat und Vertretern ägyptischer politischer Parteien (darunter die Moslembrüder) statt. Der Militärrat verhandelte mit ihnen die Bildung einer neuen Übergangsregierung. Dadurch holte sich Tantawi eine stille Zustimmung für sein weiteres Vorgehen.
Die Rede Tantawis war praktisch der kodierte Befehl, die Proteste am Tahrir-Platz niederzuwalzen. Er entließ zwar die vom Militärrat eingesetzte Übergangsregierung, und gab endlich einen Termin für die Präsidentschaftswahlen bekannt (Juni 2012), was medial als Einlenken des Generals präsentiert wurde. Jedoch beinhaltete die Rede keine große Veränderungen bezüglich der Macht der Militärs und ging kaum auf die Brutalitäten der Apparate gegen die Demonstranten ein. Diese blieben daher am Tahrir und setzten ihre Kundgebung mit der Forderung nach dem Rücktritt der Militärs fort.
Kurz danach setzte sich der Angriff der Sicherheitspolizei und der Schläger fort. Zu späten Abendstunden litten hunderttausende Demonstranten am Tahrir plötzlich an Erstickungen sowie Augen- und Schleimhautreizungen, die von einem farb- und geruchlosen Gas verursacht wurden. Das Gas wurde anscheinend durch die Lüftung der unterliegenden U-Bahn auf den Platz hinaufgeleitet. Das Militär hat die Demonstranten buchstäblich ausgeräuchert. Die Wirkung ist jener von Nervengas ähnlich. Berichte aus den Feldspitälern melden den ersten Toten durch Erstickungen. Videos zeigen Personen, die an Krampfanfällen leiden. Aus einem Feldspital berichtete der Arzt M. Abu-Futtuh über drei Gastypen, die von den Hülsen der geschossenen Patronen abzulesen sind:
a. konventionelles Tränengas,
b. CR-Gas, dieses Gas wird von der US-Armee als Kampfgas betrachtet
c. Unbeschriftete Hülsen, die einen Senf-ähnlichen Geruch haben
Augenzeugenberichte aus Kairo erzählen von Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei/Militär bis in die späten Nachtstunden. Dabei werden Spezialtruppen, neuartige Waffen und unterschiedliche Gasbomben eingesetzt, gegen welche die üblichen Mittel zur Milderung von Tränengas wirkungslos sind.
Die Konfrontationen am Tahrir und in der Straße zum Innenministerium dauerten die ganze Nacht und den Vormittag des 23. November an. Erst am Nachmittag stellten die Polizeikräfte den Angriff ein, wobei der Ausgang der Ereignisse noch nicht klar ist.
Klar ist jedoch, dass der Militärrat, der praktisch zur chemischen Kriegsführung gegen die Demonstranten übergegangen ist, seine Glaubwürdigkeit endgültig verloren hat und dass die Lage eine Woche vor den Wahlen auf eine Eskalation ähnlich wie im Jänner zusteuert.
Unentschieden und der Kampf geht weiter
Im Dreieck Militär, Moslembrüder und Massenbewegung scheint im Moment keine Partei in der Lage, politische Hegemonie zu erringen. Pragmatische Bündnisse beruhen auf kurzfristigen Interessen und sind daher nicht von ausreichender Dauer, um die dritte Partei völlig besiegen zu können.
Die passive Haltung der Moslembrüder und der moderaten Oppositionsparteien wird sie ebenfalls viel von ihrer Glaubwürdigkeit kosten. Wenn der Militärrat die von ihm provozierten Ereignisse nützen kann, um die Wahlen zu verschieben, dann würden die Islamisten nächste Woche alleine im Protest dagegen stehen. Würde jedoch der Protest zerschlagen werden und die Wahlen fänden statt, so wäre die Lage auch nach den Wahlen sehr instabil, denn die Kluft zwischen Massenbewegung und offiziellen Parteien ist heute größer denn je.