V on Ran HaCohen - Als kleiner Kolumnist stehe ich vor einem Rätsel. Zehn Jahre lang schreibe ich über das Leben in Israel und finde, dass das immer schwieriger wird: nichts ändert sich. Wie oft kann man über die gleichen Dinge etwas neues schreiben?
Andererseits haben die internationalen Medien kein Problem, Seiten und Bildschirme zu füllen, indem sie das Gleiche jedes Mal anders erscheinen lassen.
In diesen Tagen allerdings, wo es zu wirklichen Änderungen in Israel kommt wie schon seit Jahrzehnten nicht, schweigen die internationalen Medien. Dem israelischen Wind der Veränderung wird zum Beispiel im Guardian etwas Aufmerksamkeit gewidmet, anderswo aber kaum. Kann jemand dieses Paradox erklären?
Arabischer Frühling, israelischer Sommer
Noch vor wenigen Wochen, als ich schrieb, dass Israel hinter seinen Nachbarn herhinkt, konnte ich mir nicht vorstellen, dass dem arabischen Frühling dieser israelische Sommer folgen würde. Hier ist nicht der Ort, um das zu beschreiben, was der bei weitem intensivste Protest in der Geschichte Israels ist.
Es reicht zu sagen, dass was mit ein paar Mitte Juli auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv aus Protest errichteten Zelten begann, jetzt um die tausend Zelte in zwei Dutzend Städten umfasst. Die erste Massendemonstration in Tel Aviv brachte rund 20.000 Menschen auf die Beine, eine Woche später marschierten 80.000 in Tel Aviv und eine ähnliche Anzahl in verschiedenen anderen Städten, und an der dritten Samstag-Demonstration am 06. August gingen rund 300.000 Israelis auf die Strasse.
Was als Protest von Studenten in Tel Aviv gegen überhöhte Mietpreise begann, hat eine endlose Liste von anderen Berufsgruppen, Organisationen, spontan gebildeten Gruppen und Individuen angezogen – von Ärzten und Lehrern bis zu Milchproduzenten und Taxifahrern, von Alleinerziehern bis zu Motorradfahrern. Bezeichnenderweise sind auch Ehepartner von Polizisten vor kurzem der Protestbewegung beigetreten, auch die Vereinigung pensionierter Soldaten ist dabei.
Sie protestieren gegen alles: die Kosten fürs Wohnen, von Käse, von Benzin, für den Kindergarten, was immer sich denken lässt. Gegen die Wirtschaft, die von einem Dutzend Grossunternehmern beherrscht wird, die unfaire Steuerbelastung …
Es ist die israelische Mittelschicht, die auf die Strasse geht, nicht die unteren Schichten wie in früheren Protestaktionen. Die Mittelschicht erfuhr eine Verminderung ihrer Reihen um 20 Prozent zwischen 1998 und 2007, wobei die meisten der Verlierer in die Armut abgesunken sind.
Die Demonstranten umfassen Juden, Araber, eingewanderte Arbeiter (hauptsächlich Juden), Nichtreligiöse, Orthodoxe und Ultraorthodoxe (hauptsächlich aber Nichtreligiöse). Sie sind jung und alt, die meisten jung, zwischen 20 und 30 Jahre alt – Menschen, auf die das erste Mal seit vielen Jahren die Bezeichnung “Generation” zutrifft.
Gebrochene Versprechen
Was wollen sie? Die Demonstranten wollen nicht Frieden. In der Tat imitiert eines der gebräuchlichen Plakate auf dem Rothschild Boulevard Schriftart, Farbe und Design von „Peace Now“ („Frieden jetzt“) und ersetzt es durch „Wohlfahrtsstaat jetzt.“
Das ist es, was die Israelis auf die Strasse bringt: die exorbitant hohen Lebenshaltungskosten in Israel. Bei Durchschnittseinkommen, die bedeutend unter den europäischen oder nordamerikanischen liegen, sind die Preise in Israel oft viel höher.
Offensichtlich ist das Leben in Israel wirtschaftlich betrachtet viel besser als in den Nachbarländern. Warum erwarten die Israelis sich mehr? Warum vergleichen sie sich mit Europa und Nordamerika und nicht mit Ägypten oder der Türkei?
Weil uns der israelische Staat dazu überredet hat (alle israelischen Regierungen von Mitte der 1980er an verfolgten genau die gleiche Politik). Die in Israel regierende Rechte (ob Labor, Likud oder Kadima, sie alle sind gleich) hat die israelische Mittelschicht überzeugt, dass Frieden nicht notwendig ist: wir können sowohl die Okkupation betreiben als auch einen westlichen Lebensstandard haben.
Zum Beweis weisen sie auf Israels Mitgliedschaft bei der OECD hin, den exklusiven Klub der reichsten Wirtschaften der Welt, oder auf die prosperierende israelische HighTech-Industrie.
Die Idee klingt perfekt: das Regime weiss, dass sich die israelische Mittelschicht weigern würde, für die Okkupation zu zahlen.
Das Regime will aber die Okkupation nicht aufgeben, also überzeugt es die Massen, dass die Okkupation für sie keine wirtschaftlichen Nachteile bringt. Wir brauchen den Frieden nicht: wir können weitermachen wie bisher und ein gutes Leben haben. (Die Israelis zu überzeugen, dass die andere Seite keinen Frieden will, ist eine andere Komponente der gleichen Ideologie.)
Um aber diese Lüge am Leben zu halten, müssen sie etwas bieten. Und die israelische Regierung kann nichts bieten. Die Mittelschicht hört die Versprechen eines guten Lebens und liest die Berichte über sinkende Arbeitslosenquoten und starkes Wachstum, sieht aber eine andere Wirklichkeit: sie wird die ganze Zeit über ärmer.
Ich sehe es in meiner Umgebung: hart arbeitende Eltern können ihre Kinder nicht aufziehen ohne massive Hilfe seitens ihrer eigenen Eltern – vom Kauf einer Wohnung gar nicht zu reden. „Grosseltern sind kein Bankomat“ schreiben einige Demonstranten auf ihre Transparente.
Ziele und Ablenkungen
Die Wut der Demonstranten richtet sich nicht speziell gegen die Okkupation. Einige der Demonstranten können die wirtschaftliche Bedeutung der Okkupation nicht erkennen, einige fürchten eine Spaltung der Protestbewegung, wenn diese in den Mittelpunkt rückt.
In meinen Augen ist die Okkupation Israels grösste Sünde, aber nicht seine einzige. Die Demonstranten wenden sich vorbehaltlos gegen die nicht erfüllten Versprechen eines guten Lebens.
Sie wenden sich gegen regressive Besteuerung, und sie wenden sich gegen die wenigen israelischen Grossunternehmer, die aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit von Politik und Grossem Geld fast alle Bereiche der kleinen isolierten israelischen Wirtschaft monopolisiert und die gesamte Bevölkerung zu ihrem abgeschlossenen Markt gemacht haben.
Es ist noch zu früh, um sagen zu können, welche Richtung die Protestbewegung nehmen wird. Seit einigen Wochen hatte sie bereits unglaublichen Erfolg bei der Änderung der öffentlichen Themenstellung und der öffentlichen Diskussion in Israel.
Netanyahu hat gut daran getan, nicht die Polizei und Soldaten zu schicken und auf die Demonstranten schiessen zu lassen (wie Ehud Barak, als israelische Araber vor elf Jahren auf die Strasse gingen), aber alles, was er anzubieten hat, sind ein paar neoliberale Reformen, die er seit Jahren anzubringen versucht hat – anders gesagt, mehr von den gleichen Fehlern, die Israel in das gegenwärtige Dilemma geführt haben. Netanyahu glaubt noch immer, dass seine Regierung nicht gefährdet ist.
Jetzt, wo eine Viertelmillion israelische Bürger auf die Strasse gegangen sind, sieht Netanyahu mehr und mehr aus wie Mubarak oder Assad.
In der Tat, die Protestbewegung hat sich als Motto „Die Menschen fordern soziale Gerechtigkeit“ auserkoren – gesungen nach genau der gleichen Melodie wie das arabische „Die Menschen fordern den Sturz des Regimes.“ Netanyahu kann das nicht ignorieren, ebensowenig wie die Demonstranten, die verkünden: „Ägypten ist hier.“
Denken Sie daran, dass Assad versuchte, die Grenze zu Israel anzuheizen, um seine Haut zu retten. Netanyahu und Barak könnten das Gleiche tun.
Gerüchte von einem Krieg im September kursieren auf dem Rothschild Boulevard (als Reaktion auf die Erklärung eines Palästinenserstaates?), um vom internen Protest abzulenken.
Wenn es dazu kommt, dann wird die grosse Frage sein: Wird die junge Generation ihre farbenfrohen Zelte gegen die khakifarbenen vertauschen?