XLSLOT88 #Die Rote Fahne

sozialistisches magazin
Begründet 1918 von Karl Liebknecht & Rosa Luxemburg  1992 von Stephan Steins
ISSN 1862-0450  |  107. Jahrgang  |  Mittwoch, 19. November 2025

BRICS-Konferenz: Kotré und Urban (AfD) und Ľuboš Blaha (SMER)

Interviews von der Konferenz BRICS-EUROPA 2025 im russischen Sotschi

Faktor Soziologie

Erwiderung an Dr. Michael Andrick – von Stephan Steins

In vielen Punkten kann ich dem Kollegen Andrick zustimmen, gleichwohl geht die Problemstellung über seine Analyse (Link zum Video) hinaus. Um das Gesamtbild erfassen zu können, müssen wir historisch bis zu den Anfängen der Menschwerdung zurückgehen. 

Historisch muss bilanziert werden, dass es seit der Entstehung der Massengesellschaften noch nie eine Gesellschaftsform ohne Repression gab. 300.000 Jahre lang lebte der Mensch als Jäger und Sammler in (quasi kommunistischen) Sippen und erst mit dem Anwachsen der Bevölkerungsdichte begannen sich die Menschen vor 5.000 bis 10.000 Jahren im Neolithikum zu Massengesellschaften zu vergesellschaften. Die wachsende Hyperpopulation führte zur regionalen Verengung der Jagdgebiete und des frei verfügbaren Ackerlandes, was eine fundamentale Zäsur für die Soziologie bedeutete. 
Diese Entwicklung resultierte seit der Antike in Verteilungskampf, Völkerwanderungen, Völkermorden und schließlich dem Entstehen von Klassengesellschaften. 

Im weiteren Verlauf entwickelten sich dann neben der direkten Sklaverei die arbeitsteilige und entfremdende Lohnarbeit, ebenfalls mit soziologischen Konsequenzen: Menschen, die zum Überleben gezwungen sind, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, sind grundsätzlich nicht frei, sondern sind Knechte der Herrschaft Dritter. Der Versuch des Individuums, sich aus der Lohnsklaverei zu befreien, führt permanent zu gesellschaftlichen Verbrechen und Gewaltexzessen, denen jegliche staatliche Ordnung nur mit Repression begegnen kann – was allerdings immerhin weniger Gewalt bedeutet als die staatenlose Anarchie, blutigen Raubzüge und Völkermorde durch Clans und Warlords.
Mit der Unfreiheit durch Sklaverei und Lohnarbeit eskalierte der Verteilungskampf um Land, Siedlungsraum und Ressourcen, der in der Klassengesellschaft des modernen Kapitalismus und Imperialismus seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. 

Die Massengesellschaft ist, gemessen am Zeitraum ihres Bestehens, nicht die natürliche Organisationsform des menschlichen Zusammenlebens. Die historische Zäsur der Hyperpopulation führte zu neuen gesellschaftlichen materiellen Rahmenbedingungen und Widersprüchen und erforderte tiefgreifende Anpassungsprozesse des Individuums.
Heben wir zwei zentrale Momente dieser gesellschaftlichen Transformation heraus:

Bis zur Antike, respektive der Entwicklung der Schrift vor rund 5.000 Jahren und noch bis zur Verbreitung des Buchdrucks ab dem 15. Jahrhundert erfolgte die Weitergabe des Wissens mündlich. In allen Kulturen gab es dafür explizite „Hüter des Wissens“ in unterschiedlichen kulturellen Ausdruckformen, denken wir bspw. an Schamanen und Priester bis hin zu den Bänkelsängern des Mittelalters, deren Profession oftmals vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden. 
Wissen in Buchform war zunächst nur der geistigen Elite vorbehalten. 

Das tradierte Wissen korrespondierte mit der persönlichen Alltagserfahrung des Individuums, was bedeutete, dass nahezu alle für das Leben des Individuums, der Sippe oder des Dorfes relevanten Informationen durch den Einzelnen selbst direkt rezipiert und evaluiert werden konnten. Die persönlichen Realitätsinterpretationen waren zudem in die überschaubare Sozialstruktur eingebunden, mit welcher das akkumulierte Wissen des Individuums in dialektischer Wechselwirkung stand. 
Das ist ein ganz entscheidender Unterschied zur modernen Mediengesellschaft, in welcher der Großteil der Realitätsinterpretation auf die Vermittlung von Wissen oder vermeintlichem Wissen durch die medialen Instanzen Dritter angewiesen ist. 

Eine weitere zentrale soziologische Deformation der Art hat ihren Ursprung in der neuen ökomischen Stellung des Individuums. Wie bereits erwähnt, bedeutet die Massengesellschaft für das Individuum den Verlust seiner Freiheit und Selbstbestimmung. 
Um seine existenziellen Bedürfnisse wahrnehmen und verteidigen zu können, formulierte der Mensch schließlich kollektive Interessen und organisierte sich kollektiv im Antagonismus zu den Herrschaftsverhältnissen. Denken wir bspw. an Bauernbünde und später Gewerkschaften und Parteien. 
Für dieses neue gesellschaftliche Selbstverständnis prägte die sozialistische Philosophie die Begriffe (ökonomische) Klasse und Klasseninteressen. 

Die kollektive Selbstorganisation hat jedoch den individuellen Verteilungskampf nicht vollständig ersetzt. Solange Menschen gezwungen sind, ihr Überleben in Lohnarbeit zu sichern, wird deren Lebensweise entweder durch Kapital oder Bürokratie determiniert. Aus dieser Fremdbestimmung suchen, jedenfalls die dazu fähigen, Teile der Gesellschaft in der einen oder anderen Weise einen Ausweg zum Nachteil der Allgemeinheit. Sie daran zu hindern, ebenso die Bestrebungen des gesellschaftlichen Kollektivs sich gegen Ausbeutung und Entrechtung zu erheben, generieren staatliche Repression. 

Wir beobachten zwei Phänomene: Zum einen jene, die durch Gewalt und Verbrechen ihren ökonomischen Status anzuheben suchen. Diese private Akkumulation von Kapital, nichts anderes als Raub gesellschaftlicher Ökonomie, gipfelt heutzutage in Finanzkonzernen wie BlackRock und Co. 
Die weitaus größere Gruppe schließt mit den herrschenden Verhältnissen einen „inneren Gesellschaftsvertrag“; solange der Staat Überleben und Konsumfähigkeit der Familie in einem vergleichsweise erträglichen Maße sichert und den Leidensdruck nicht existenziell eskaliert, ordnet sich die Masse der Herrschaft unter. 
Dieser „innere Gesellschaftsvertrag“ wird mehr oder weniger bewusst oder auch unbewusst begleitet durch Ignoranz gegenüber Entwicklungen, die den Rahmen von Ethik, Moral und Recht sprengen. 

Das Individuum trifft eine Abwägung zwischen den Belastungen seiner persönlichen Lebensumstände durch Willkürherrschaft, Ausbeutung und Entrechtung einerseits und dem Kampf um Befreiung andererseits. 
Solange Repression und Leidensdruck noch als das kleinere Übel wahrgenommen werden, als bspw. auf einer Barrikade erschossen zu werden, tendiert die Masse intuitiv dazu, die tatsächlichen Vorgänge und Verhältnisse auszublenden. Um diese Kognitive Dissonanz erträglich zu machen, bedient sich das Gehirn seiner Fähigkeiten des Verdrängens und Rechtfertigungsaffekts, bspw. durch das Nachplappern der Staats- und Konzernmedien.
Es ist daher eine weit verbreitete wie irrige Annahme, dass mehr Aufklärung schließlich zu erhöhtem gesellschaftlichen Bewusstsein und Handlungsbereitschaft führen würden. Das trifft zwar auf einen sehr kleinen intellektuellen Teil der Gesellschaft zu, der Großteil jedoch will aufgrund des „inneren Gesellschaftsvertrages“ die Wahrheit gar nicht wissen und bewegt sich mit der gesellschaftlichen Dynamik – im Positiven wie im Negativen. 

Die Nichtbehandlung der soziologischen Metaebene ist das große Manko im akademischen und gesellschaftlichen Diskurs.