SYRIZA: der meisterhafte Durchbruch einer einzigartigen linken Einheitspraxis

Bündnis zwischen verschiedenen sozialistischen Strömungen bringt den Erfolg - von Yorgos Mitralias (Γιώργος Μητραλιάς)

- von RF  -

Schliesslich erlangte SYRIZA innere Ruhe erst 2010 nach dem Abtritt des sozialdemokratischen Flügels von Synaspismos und der Entfernung seines ehemaligen Präsidenten Alecos Alavanos, der zum Erzfeind seines Günstlings Alexis Tsipras wurde.
Von nun an wurde die politische Richtlinie der Koalition klarer und linksorientierter.

Für “die von oben” ein Schreckensbild, eine Hoffnung für “die von unten” tritt SYRIZA mit Prall und Schall auf die politische Szene jenes derzeit in einer schweren Krise begriffenen Europas.

Nachdem es am 06. Mai seine Wählerschaft vervierfacht hat, nimmt sich SYRIZA vor, nicht nur bei den Wahlen vom 17. Juni die erstgrösste Partei Griechenlands zu werden, sondern auch eine linke Regierung bilden zu können, die die Sparmaßnahmen abschaffen, die Staatschuld ablehnen und die Troika aus dem Land vertreiben wird.

Kein Wunder also, wenn SYRIZA weit über Griechenlands Grenzen hinaus ein Kuriosum ist und praktisch alle Menschen sich Fragen nach seinem Ursprung und Eigenart, nach seinen Zielen und ehrgeizigen Plänen stellt.

Jedoch ist SYRIZA keine wirkliche Neuerscheinung in der europäischen Linken. Die Koalition der radikalen Linken SYRIZA hätte ab ihrer Entstehung im Jahre 2004 die Aufmerksamkeit der internationalen Politologen und Medien erregen müssen, schon deswegen, weil sie von Anfang an eine nie da gewesene, völlig eigenartige politische Struktur in der griechischen, europäischen, ja globalen Linke.

Erstens auf Grund ihrer Zusammensetzung. Es entstand nämlich aus einem Bündnis zwischen Synaspismos (Koalition), einer linken reformistischen Partei vagen eurokommunistischen Ursprungs mit Vertretung im Parlament und einem Dutzend linksradikaler Organisationen, die beinahe das ganze Spektrum des Trotzkismus, Ex-Maoismus und des Movimentismus (Strömung, die den Aufbau einer politischen Organisation auf Sozialbewegungen gründen will) abdecken und bildete also von vornherein eine Ausnahme für die Regel, nach welcher damals – und auch jetzt- die mehr oder weniger traditionellen Parteien links von der Sozialdemokratie sich nie und nimmer mit linksradikalen Organisationen verbünden!

Nicht nur deswegen ist aber SYRIZA einzigartig. Am Anfang war SYRIZA nur als konjunkturbedingtes Wahlbündnis gedacht (es wurde knapp vor den Wahlen von 2004 gegründet), ist aber fortbestanden und hat ihre Höhen und Tiefen, ihre Erfolge und vor allem ihre Krisen und Scheitern überdauert und wurde so zum eklatanten Beispiel einer Realität, die die internationale radikale Linke bisher nur mühevoll anstrebt: das Zusammenleben unterschiedlicher Denkarten, Strömungen und sogar Organisationen innerhalb ein und derselben politischen linksradikalen Organisation!

Acht Jahre nach SYRIZAs Entstehung ist es sonnenklar, was für eine Lehre daraus zu ziehen ist: Ja, eine solche Zusammenarbeit ist nicht nur möglich, sondern auch fruchtbar und kann sogar auf Dauer grosse Erfolge erzielen.

Man wird sich aber fragen: wie konnte dieses Dutzend so kunterbunte “Komponenten” erstens zusammenkommen und dann sich zu einer so langen und einzigartigen Zusammenarbeit organisieren? Eine zutreffende Frage, die eine detaillierte und gründliche Antwort verdient.
Nein, das “Wunder” SYRIZA ist einem nicht in den Schoss gefallen, ist auch kein Zufall. Es ist ziemlich lange herangereift und konnte vor allem unter günstigsten Bedingungen keimen: innerhalb der globalkritischen und Sozialbewegungen jener letzten 15 Jahre.

Man könnte sagen, dass alles vor 15 Jahren mit der Gründung des griechischen Zweigs der Bewegung Europäische Märsche gegen Arbeitslosigkeit begann. Dabei hatten wir nämlich nicht nur mit dem ersten Schritt in Richtung dessen, was etwas später als globalkritische Bewegung der Sozialforen bezeichnet wurde.

Insbesondere in Griechenland haben die Europäischen Märsche eine vielleicht noch wichtigere Folge, und zwar, dass sie etwas bisher total Undenkbares ermöglichten: eine Einigung der Linke mittels aktivistischer Handlung.

So schlossen sich dank den Europäischen Märschen Gewerkschaften, Parteien und Organisationen aus der griechischen Linke (KKE, die KP Griechenlands inbegriffen, zumindest für einige Zeit!) – welche einander bisher nie getroffen hatten oder sich sogar gegenseitig ignorierten – zusammen und beteiligten sich an einer nie da gewesenen europäischen Bewegung, und zwar an der Seite von ausländischen, bis dahin in Griechenland total unbekannten Gewerkschaften, Sozialbewegungen und politischen Strömungen.

Kein Zufall also, wenn dieser erste Schlag gegen das, der griechischen Linken seit jeher zutiefst innewohnenden Sektierertum, sogar Anlass gab für rührende Auftritte des Wiedersehens – beinahe Psychodramen – zwischen Aktivisten, die bis dahin nie zusammengetroffen waren und plötzlich entdeckten, dass der “Andere” schliesslich doch nicht so “anders” war.

Offenbar war die Zusammenkunft gelungen, umso mehr als die griechischen Aktivisten die eigenen Grenzen endlich überschritten und einen europäischen Aktivismus aus Fleisch und Blut entdeckten, dessen Vorhandensein sie vorher nicht mal ahnten.

Nachdem sie zum ersten Mal gemeinsam gehandelt hatten, was eine um so solidere Grundlage bildete, als das innerhalb einer ganz neuartigen Sozialbewegung geschehen war, machten die verschiedenen griechischen Komponenten der Europäischen Märsche schon 1999 eine zweite, neuartige Erfahrung mit.

Ziel war, ihr Bedürfnis nach Einheit zu vertiefen – der Gemeinsame Dialogs- und Handlungsraum, der zugleich die notwendige politische und programmatische Debatte vertiefte und die Gedanken auf die nächste einheitliche movimentistische Erfahrung vorbereitete – das Sozialforum, das die Entwicklung der griechischen Linken stark prägen sollte.

Der riesige populäre Erfolg des Sozialforums förderte die Bildung der Koalition der Radikalen Linken; fast spontan und recht enthusiastisch wurde 2003/2004 der Schritt dazu getan.

Rote Fahne

Die Aktivisten aus den verschiedenen Komponenten von SYRIZA, die einander anlässlich der gemeinsamen Kämpfe kennengelernt hatten, die zu Tausenden miteinander gereist waren und demonstriert hatten in Amsterdam (1997) und Köln (1999), Nizza (2000) und Genua (2001), Firenze (2002), Paris (2003) usw., hatten Zeit genug gehabt, nicht nur politisch sondern auch menschlich näher zu kommen, bevor sie die Koalition der Radikalen Linken gründeten.
Jene Koalition steuerte doch gegen den Strom all dessen, was damals sonst in Europa vorging, wo ein solches Bündnis zwischen einer reformistischen Linkspartei und linksradikalen Gruppen schlicht und einfach undenkbar war.

Doch nach jener eher geglückten Entstehung war die Folge des Abenteuers bei weitem nicht immer leicht, und mehrmals war es sogar dem Scheitern nahe.
Selbstverständlich gab es öfters Vertrauenskrisen zwischen dem Rückgrat von SYRIZA – Synaspismos – und dessen linksradikalen Partnern, was eher “logisch” war.

Mit der Zeit aber wurde SYRIZA immer homogener und folglich gingen die Krisen – übrigens auch die Debatten – nicht nur praktisch quer durch die ganze Koalition und all deren Komponenten, sondern auch vor allem innerhalb von Synaspismos selber, wo die sich andauernd neu bildenden Strömungen verbissen einander ankämpften.

Schliesslich erlangte SYRIZA doch einige innere Ruhe erst 2010 nach dem Abtritt des sozialdemokratischen Flügels von Synaspismos (der die Demokratische Linke wurde) und der Entfernung seines ehemaligen Präsidenten Alecos Alavanos, der zum Erzfeind seines Günstlings Alexis Tsipras wurde, nachdem er jenen selber “inthronisiert” hatte.

Von nun an wurde die politische Richtlinie der Koalition klarer und linksorientierter, während ihr junger Anführer Alexis Tsipras sein Leadership durchsetzte und erste Erfolge anhäufte, was ein immer radikaleres SYRIZA zur notwendigen Glaubwürdigkeit verhalf, um von den durch die Schuldkrise verursachten aussergewöhnlichen Umständen profitieren zu können.
Nun war SYRIZA so weit, als politische Organisation die Hoffnungen und Erwartungen weiter Teile der gegen die Sparpolitiken, die Troika, die bürgerlichen Parteien und das kapitalistische System überhaupt revoltierenden griechischen Gesellschaft am besten vertreten zu können.

Als politische Organisation, deren Programm andauernd sich durch gewollte Unklarheit auszeichnete, balancierte die Koalition der radikalen Linken fast ununterbrochen zwischen Linksreformismus und konsequentem Antikapitalismus.
Vielleicht übrigens schöpfte sie ihre Kräfte gerade aus dieser ewigen Pendelbewegung.

Doch muss etwas klar liegen: was eher positiv fungierte in “normalen” Zeiten könnte zum Hindernis, ja sogar zum Bumerang werden in Zeiten akuter Krisen und Verschärfung der Klassenkämpfe.
Einfacher gesagt ist SYRIZA eben ein meisterhafter Durchbruch gelungen, der es aus einer Minderheitspartei innerhalb einer auch minderheitlichen griechischen Linken zur vorherrschenden regierungsfähigen Partei gemacht hat.
Und das nicht in irgendeinem Land zu irgendeiner geschichtlichen Zeit, sondern in jenem Griechenland, das als “Experimentlabor” und Falltest für ein Europa der Sparpolitik am Rande des Nervenzusammenbruchs fungiert.

Ein so plötzlicher Maßstabswechsel kann Schwindel erregen. Indem SYRIZA zum Schreckensbild für die Grossen dieser Erde und zur Hoffnung für die Kleinen und Entrechteten in Griechenland und sogar europaweit wurde, obliegen ihm nun gigantische, gerade epochale Aufgaben, auf welche sie weder politisch noch organisatorisch vorbereitet ist.

Dann, was tun? Auf diese Frage gibt es eine klare und kategorische Antwort: Ganz einfach SYRIZA unterstützen! Und zwar mit allen Mitteln. Das heisst vorrangig: es nicht allein lassen. Weder in Griechenland noch in Europa.
Mit einfachen Worten: genau das Gegenteil deren tun, die ihre Kritik an SYRIZA nicht mit Solidarität oder Unterstützung gegen den gemeinsamen Feind kombinieren.

Kritische Unterstützung vielleicht – aber immerhin Unterstützung! Und nicht morgen, sondern heute. Denn über alle taktischen oder sonstigen Differenzen hinaus führt doch SYRIZA eben unseren Kampf, unser aller Kampf.
Und dabei zu versagen ist so gut wie unterlassene Hilfeleistung. Und es handelt sich dabei nicht um einen Einzelnen, sondern um ganze Länder und Völker!

RF/tlaxcala-int.org – Übersetzung Michèle Mialane

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