China: Menschen auf Ostkurs – 10 Fragen an Christian Y. Schmidt

„Meine Vorstellung von China war dann ziemlich diffus.“

- von Presseticker  -

L eben und arbeiten in China: Erleben Sie die Volksrepublik und im Besonderen die chinesische Hauptstadt durch ihre ausländischen Bewohner. Heute haben wir zehn Fragen an Christian Y. Schmidt.
Der 55-jährige lebt mit seiner Frau Gong Yingxin seit 2005 in Beijing und arbeitet dort als Schriftsteller und freier Autor. – Interview by China Radio International

Wo kommen Sie ursprünglich her und wie und wann sind Sie auf China gekommen?

Ich komme ursprünglich aus Bielefeld, genauer aus dem Ortsteil Bethel. Bethel war eine Anstalt für Behinderte, die von dem protestantischen Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh gegründet worden ist, und in meiner Jugend hauptsächlich von einer protestantischen Bruder- und Schwesternschaft betrieben wurde.
Heute nennt sie sich Stiftung, eigentlich ist es aber immer noch eine Anstalt. In diesem Milieu bin ich aufgewachsen. Weil es ja in so einer Anstalt, in so einem Milieu auch viel um soziale Gerechtigkeit geht, hat mich das praktisch automatisch zu einem Linken werden lassen.

Dass ich mit meiner politisch linken Grundeinstellung Mao und das politische China gut fand, hatte verschiedene Gründe. Den Hauptgrund schildere ich ja auch in meinem Buch Allein unter 1,3 Milliarden. Ich hatte gelesen, dass während der Kulturrevolution die Lehrer geächtet wurden und die Schüler ihnen grosse Schandhüte aus Papier aufgesetzt haben.
Das wollte ich mit meinen Lehrern auch machen.

Das war zu einer Zeit, in der man sich orientiert, mit 13, 14, 15 Jahren. Und wer war damals am Radikalsten, am linkesten? Das schienen mir in Deutschland die Maoisten zu sein und so bin ich Anfang der Siebziger irgendwie bei denen gelandet.
Mao war sowieso im Schwange. Schon seit ’68 wurden auf Demos Mao-Portraits durch die Gegend getragen. Im Bielefelder Karstadt hab ich mir dann ein Mao-Poster gekauft und es über mein Bett gehängt. Mao hat mich in den Schlaf begleitet und am Morgen geweckt. Ich wollte damals schon, mit 15 oder 16, nach China und am liebsten in einer Volkskommune arbeiten, Reis pflanzen oder Kokosnüsse ernten.
Das habe ich jedenfalls immer mal wieder meinem Vater beim Mittagessen erzählt. Da gab es jedes Mal einen Riesenkrach.

Als es nach Maos Tod mit Deng Xiaoping Richtung Kapitalismus ging, gefiel mir das alles nicht mehr, und ich habe mich dann auch nicht mehr für China interessiert. Bis 2002. Auf der Hochzeit eines befreundeten Paares in Frankfurt/Main lernte ich meine heutige Frau kennen, eine Beijingerin, und was dann passiert ist, kann ich mir bis heute nicht erklären.
Jedenfalls lebte ich ein halbes Jahr nach dem Zusammentreffen plötzlich in Singapur und war auch mit dieser Frau verheiratet. Zwei Jahre später wurde ich dann nach Beijing verschleppt.
Bei meiner Hochzeit wusste ich ja noch nicht, dass Männer in einer chinesischen Ehe nichts zu sagen haben.

China – das Reich der Mitte: Was hat das damals für Sie bedeutet, bevor Sie hier ankamen?

China war bis etwa zu Maos Tod meine politische Hoffnung. Ich war Mitglied in der maoistischen Organisation Liga gegen den Imperialismus. Ich bin auf die ganzen Demos gegangen, die der Verein veranstaltete, ich habe maoistische Zeitungen in der Bielefelder Fussgängerzone verkauft, die Beijing Rundschau gelesen und China im Bild, wobei ich letztere immer lieber mochte, wegen der tollen Photos.

Ich bin dann 1976 sogar zur Bundeswehr gegangen, weil die Maoisten und die chinesische kommunistische Partei das so wollten. Der Grund dafür war die sogenannte Drei-Welten-Theorie, die damals von der KP Chinas vertreten wurde. Die zu erklären, wäre jetzt zu kompliziert.
Bei der Bundeswehr bin ich dann aber wieder ganz schnell vom Maoismus abgekommen. Das lag einerseits daran, dass ich gemerkt habe, dass ich gar kein Fulltime-Maoist sein konnte. Andererseits war ich, wie gesagt, auch von der Entwicklung Chinas enttäuscht.

Meine Vorstellung von China war dann ziemlich diffus. Ich weiss sogar noch, wie ich mich mit meiner Frau in Singapur über das grosse chinesische Wirtschaftswachstum gestritten habe. Da habe ich durchaus Sachen vertreten, die man heutzutage auf Spiegel-Online in den Kommentaren unter den Beiträgen im Forum liest: Die sind ja alle versklavt. Die müssen alle von morgens bis abends arbeiten. Das ist ein grosses Arbeitslager, und daher kommt das alles.
Das hat sich dann eigentlich erst geändert, als ich wirklich hier war.

Erster Tag im neuen Land, können Sie sich noch an Ihre ersten Eindrücke erinnern? Wie war das?

Ein Schock! Ich kam hier Ende Februar an und es war extrem kalt oder es kam mir zumindest so vor. Wir waren in Singapur bei den dort üblichen 33 Grad losgeflogen, und kamen in Beijing bei geschätzten minus tausend Grad an.
Mir war kalt und die Leute auf der Strasse schienen extrem unfreundlich und missmutig zu sein. In Bliefe von dlüben habe ich diese Ankunft auch beschrieben, allerdings ein bisschen lustiger.

Nach zwei Tagen Schlaf dachte ich: Oh Gott, hier musst Du jetzt wohnen, an diesem unwirtlichen Ort mit diesen unfreundlichen Menschen. Dann wurde es langsam wärmer, die Leute wurden plötzlich netter, und im späten Frühjahr wusste ich: Ich liebe Beijing.
Ich glaubte, verstanden zu haben, wie die Beijinger funktionieren und habe sie ab diesem Moment eigentlich sehr gemocht.

Was genau machen Sie hier?

Das frage ich mich auch immer wieder. Also: Ich schreibe in erster Linie Bücher, dann schreibe ich Artikel für Magazine, ich habe meine China-Kolumne in der taz, ab und zu spreche ich einen Radio-Kommentar und führe manchmal Leute durch Beijing.
Tatsächlich ist es oft so, dass ich am Ende des Tages ganz viel gemacht habe, aber nicht genau weiss, was das eigentlich war. Das ist mir allerdings in Deutschland auch schon so gegangen. Ich weiss nur: Ich arbeite in China viel mehr.

Entweder liegt das an der Champagner-Luft hier in Beijing, oder an meinem Alter. Jeden Tag komme ich dem Tod näher. Das muss so eine Art Torschlusspanik sein: Man will noch ganz viel schaffen, bevor man in die Grube springt.

Wie unterscheidet sich ein ganz normaler Arbeitstag in Beijing von einem Arbeitstag in Deutschland?

Für mich gar nicht. Ich setze mich morgens an meinen Rechner und fange mit der Arbeit an, beantworte eMails oder schreibe. Durch das Internet bin ich sowieso immer halb in Deutschland. Das heisst: Ich kommuniziere mit Leuten zu Hause genau so viel wie mit Menschen in Beijing.
Ich glaube, es spielt auch zusehends immer weniger eine Rolle, an welchem Ort der Welt man sich eigentlich befindet. Wenn man in einer Ziegelei arbeitet, ist das sicherlich etwas anderes.

Was sich tatsächlich unterscheidet, sind die Pausen. In der Mittagspause gehe ich zum Beispiel in die Kantine gegenüber. Da kostet das ziemlich gute Essen nur 13,50 RMB (etwa 1,60 Euro). In der Kantine bin ich seit Jahren der einzige Ausländer.

Christian Y. Schmidt

Christian Y. Schmidt

Das ist natürlich schon ein Unterschied zu Berlin. Ich hege allerdings die Hoffnung, dass sich Berlin, was das Mittagessen betrifft, an Beijing angleicht. Vernünftig, günstig und schnell mittags essen zu gehen, ist dort schwer.

Was ist Ihrer Meinung nach “typisch” für Beijing beziehungsweise “typisch” chinesisch?

Ich habe gerade in einem anderen Interview gesagt, dass es das eigentlich nicht gibt. Dabei müsste ich jetzt eigentlich bleiben, weil die Chinesen ganz unterschiedlich ausfallen. Gut, ich lasse mich natürlich auch immer wieder zu Typisierungen hinreissen, zum Beispiel dazu, dass Chinesen cooler sind als Deutsche, entspannter.

Auf der anderen Seite trifft man auch immer wieder auf das genaue Gegenteil. Die können auch richtig ausrasten. Zum Beispiel auch bei Verhandlungen auf dem Land mit irgendwelchen Schwarztaxifahrern. Dann wird auch mal ordentlich rumgeschrieen. Wenn man sich dann aber geeinigt hat, ist wieder alles gut.

Typisch ist wohl auch, in der Öffentlichkeit Dinge zu tun, für die sich die meisten Europäer schämen würden. Anziehen, was man will, den nackten Bauch streicheln, laut auf der Strasse singen, rückwärts gehen.

Andererseits wird aber auch extrem darauf geachtet, nicht anzuecken und sich schön harmonisch in eine Gruppe einzupassen. Oh, ich merke gerade, dass es schon wieder passiert ist. Man glaubt, man wüsste ganz genau, wie die Chinesen ticken, zumindest hinsichtlich einer Eigenschaft, und wenn man länger darüber redet, findet man heraus: Es gilt ja auch das genaue Gegenteil.
Die chinesische Wirklichkeit ist komplex, wie man heutzutage immer gerne sagt.

Welche Eigenschaft der Chinesen, welche Gewohnheit würden Sie gern in Ihrer Heimat übernehmen?

Was ich exportieren würde? Dass man sich bei gesellschaftlichen Entscheidungen oder zu Verhandlungen zum Essen trifft, um dann hier Kompromisse oder Abschlüsse auszuhandeln. Das ist eine sehr gute Angewohnheit, die ich gerne nach Deutschland übertragen würde.

Und womit kommen Sie überhaupt nicht zurecht?

Das ist wohl die chinesische Unlogik. Man trifft auf Argumente, die sich gegenseitig widersprechen. Solche Widersprüche machen den Chinesen aber gar nichts aus, auch wenn man sie darauf hinweist.

Zum Beispiel haben meine Frau und ich im Sommer 2010 auf den relativ unbekannten Miao Dao-Inseln Urlaub gemacht, einem Archipel im Gelben Meer, der aus militärischen Gründen bis vor Kurzem noch komplett für Ausländer gesperrt war. Der nördliche Teil ist das auch immer noch, man versicherte uns aber, dass die südlichen Inseln offen seien.

Allerdings stimmt das so nicht ganz. Das aber habe ich erst erfahren, als mich die Polizei auf der zum Archipel gehörenden Insel Da Hei Shan kurzerhand festsetzte, mit der Begründung: Diese Insel ist für Ausländer gesperrt. Da die letzte Fähre bereits abgelegt hatte, verdonnerte man mich dazu, für einen halben Tag und eine Nacht in meinem Hotel zu bleiben.

Am nächsten Morgen durfte ich mit der ersten Fähre auf die Hauptinsel zurück. Hier trafen wir uns mit dem stellvertretenden Polizeichef, um gegen die Festsetzung zu protestieren.
Der Polizeichef erklärte zunächst, der Polizist, der uns die positive Auskunft gegeben hatte, hätte wohl die gesperrte Insel Da Hei Shan und die bereits geöffnete Nachbarinsel Xiao Hei Shan durcheinander gebracht. Die Namen seien ja fast identisch.

Nun hatten wir ja gar nicht nach konkreten, sondern allgemein nach allen Inseln gefragt. Der Polizist hatte also die beiden Inseln gar nicht verwechseln können. Das allerdings perlte absolut ab: Der Polizeichef beharrte auf seiner Verwechslungshypothese, und so etwas bringt mich auf die Palme.

Genauso irre war, dass er erklärte, es gäbe natürlich ein Papier, aus dem hervorgehe, dass Da Hei Shan gesperrt sei. Das könne er uns aber nicht zeigen, denn das Papier sei geheim. Meinen Einwand, dass ein geheimes Verbot nicht besonders sinnvoll sei, ignorierte er tapfer.

Es wurde dann aber doch noch ganz nett. Er hat sich am Ende so oft für meine Unannehmlichkeiten entschuldigt, dass es mir selbst langsam peinlich wurde. Ohne seine Gelassenheit hätte das Gespräch sicherlich eskalieren können.
Solche Widersprüche kennt jeder Ausländer, der hier lebt.

Auf welche Weise hat Sie das Leben hier in dieser Stadt, in China verändert, beeinflusst, was bedeutet China heute für Sie?

Ich bin tatsächlich cooler, mutiger, weltoffener und ich sehe auch besser aus als früher. Finden Sie nicht?

Und, wie lange wollen Sie bleiben? Schon Rückflugticket gebucht?

Natürlich nicht! Ich kann überhaupt nicht mehr zurück, aus verschiedenen Gründen. Was soll ich denn mit meiner Sammlung raubkopierter DVDs machen, die ich mir mühsam aufgebaut habe?
Wenn ich versuchen würde, die beim deutschen Zoll durchzubringen, würde ich wohl gleich in den Knast wandern. Und das chinesische Essen! Das bekommt man ja so in Deutschland praktisch kaum.

Den dritten Grund habe ich vergessen. Ich glaube aber, dass der extrem wichtig war. Andererseits: Man soll nie nie sagen. Wenn sich die Währungen weiter so entwickeln und wir uns mit unseren in China gesparten harten Yuan eine kleine Villa kaufen können, in Dahlem oder am Bodensee, komme ich vielleicht zurück. Lange kann das ja nicht mehr dauern.

RF/CRI

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