100 Tage Krieg gegen Libyen: Immer mehr zivile Opfer

Wir fordern: Waffenruhe und Verhandlungen - Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag

- von RF  -

B erlin, Kassel (bfr) – Am 20. März, am Tag nach Beginn des Angriffs alliierter Kampfbomber und Marschflugkörper auf Tripolis, erklärte die US-Regierung, der Einsatz in Libyen werde Tage, nicht Wochen, dauern. Das war gelogen.
Inzwischen liegen 100 Nächte Bombardement hinter den Menschen in Tripolis und anderen Städten Libyens. Damit dauert dieser NATO-Krieg schon 22 Tage länger als jener um das Kosovo 1999. Jedoch ein Ende ist nicht in Sicht.

Die dem Krieg zugrunde liegende UN-Resolution 1973 ermächtigt jeden Staat, der will, zum „Schutz der Zivilbevölkerung“ alle militärischen Mittel einzusetzen und jeglichen Flugverkehr gewaltsam zu unterbinden – und fordert eine „sofortige Waffenruhe“.

Schnell zeigte sich, dass die Luftwaffen der NATO-Staaten nur auf einer Seite des innerstaatlichen Konflikts eingriffen, um ihrer selbst gewählten Schutzverantwortung nachzukommen. Dagegen lässt sie Rebellen unbehelligt, wenn sie beispielsweise von „Pick-ups“ ungelenkte Raketen abfeuern, die Zivilpersonen gefährden.
Wir fragen: Was ist das für eine Schutzverantwortung, wenn sie gegen die eine Seite mit grösstmöglicher Härte vorgeht, andererseits aber die schützende Hand über die Angreifer hält?

Die Präsidenten und Regierungschefs Frankreichs, Grossbritanniens und der USA nehmen für sich in Anspruch mit ihrem Krieg gegen die libysche Regierung ein Massaker in Bengasi und damit eine humanitäre Katastrophe verhindert zu haben. Dies ist zunächst lediglich eine Behauptung – keine Tatsache.
Eine Tatsache ist es hingegen, dass die NATO unisono mit den Rebellen jegliches Waffenstillstandsangebot des Gaddafi-Regimes abgelehnt hat und die Angriffe fortsetzt, obwohl die UN-Resolution eine Waffenruhe fordert.
Wir sagen: Der Schutz der Zivilbevölkerung ist am ehesten durch eine Beendigung des Krieges gewährleistet.

Am 31. März hat die NATO den Kriegseinsatz von der „Koalition der Willigen“ übernommen. An diesem Tag bezifferte das britische Aussenministerium die Zahl der bis dahin Getöteten auf 1.000 Menschen. Zwei Monate später gab der Berichterstatter der UN-Menschenrechtskommission die Zahl der Getöteten schon mit 10.000 bis 15.000 an.
Die Zahl der Flüchtlinge hat sich seit dem 19. März auf über eine Million Menschen vervierfacht.

Das bedeutet zweierlei: Erstens hat das militärische Eingreifen der NATO nicht zur Beendigung des Krieges geführt, sondern zu seiner Ausweitung, und zweitens tragen NATO und Rebellen durch ihre Verhandlungsverweigerung die Hauptschuld an dieser Eskalation.

Cameron, Obama und Sarkozy haben öffentlich bekannt gegeben, dass sie den Krieg bis zum Sturz Gaddafis weiterzuführen gedenken, obwohl die UN-Resolution eine Entmachtung Gaddafis nicht vorsieht.
Schon lange vor der UN-Resolution hatte Sarkozy bereits den Sturz Gaddafis als Ziel genannt, Obama und die EU-Regierungschefs haben Gaddafis Rücktritt gefordert.
Wir sagen: Die behauptete „Schutzverantwortung“ der Kriegsallianz ist lediglich ein Vorwand, um in Libyen ein „regime change“ gewaltsam herbeiführen zu können.

Welche Motive treibt, welche ökonomischen und geostrategischen Interessen verfolgt die NATO-Allianz mit ihrem kriegerischen Eingreifen in Libyen?

Erstens: Eine neue, neoliberal ausgerichtete libysche Regierung befreit die westlichen Erdöl- und Erdgaskonzerne von den Verträgen mit Gaddafi, die dem Regime durchschnittlich 89 Prozent der Einnahmen zuführten.
Die nachgewiesenen Erdölressourcen sind doppelt so hoch wie die der USA.

Zweitens: Eine neue Regierung, die in der Schuld ihrer westlichen Schutzmächte stünde, eröffnet multinationalen Wasserkonzernen die Möglichkeit, sich an der Vermarktung des noch in Staatsbesitz befindlichen Nubischen Aquifer zu beteiligen.
Dieses grösste Frischwasserreservoir der Welt unter der libyschen Wüste ermöglicht die komplette Wasserversorgung des Landes mit einer Reichweite von ca. 5.000 Jahren. Der Wert des Wassers liegt beim Fünffachen des Werts des Erdöls und Erdgases.

Drittens: Mit der Beseitigung Gaddafis verschwindet ein wichtiger Motor der afrikanischen Einigung, die auf eine ökonomische Selbständigkeit des schwarzen Kontinents abzielt – unabhängig vom internationalen Währungsfonds und den Petrodollars.

NATO-Bomben auf Wohnviertel in Libyens Hauptstadt Tripolis

NATO-Bomben auf Wohnviertel in Libyens Hauptstadt Tripolis, Juni 2011

Viertens: Darüber hinaus könnte eine westlich orientierte neue libysche Regierung helfen, den Einfluss Chinas in Afrika zurück zu drängen.
China investiert in Libyen mehr als in den anderen afrikanischen Staaten. Der Westen sieht in der chinesischen Konkurrenz eine Bedrohung des eigenen Einflusses und der Profitquellen westlicher Konzerne.

Fünftens: Eine pro-westliche Regierung in Libyen eröffnet für Grossbritannien und die USA die Möglichkeit, wieder – wie unter der Herrschaft des libyschen Königs vor 1969 – Militärstützpunkte einzurichten.

All diesen Zielen steht Gaddafi im Weg. Das macht ihn nicht zu einem Freund der Friedens- oder Menschenrechtsbewegung. Er bleibt ein mit diktatorischen Befugnissen ausgestatteter Machthaber.
Nur: Das darf nach dem geltenden Völkerrecht kein Grund für eine kriegerische Intervention sein.

Die Beseitigung Gaddafis setzt die gewaltsame Einnahme der libyschen Hauptstadt voraus. NATO und Rebellen bereiten sich auf einen Angriff auf die zwei Millionen Einwohner zählende Agglomeration Tripolis vor. Schon jetzt häufen sich die Vorfälle, bei denen Zivilpersonen durch NATO-Bomben und -Raketen getötet und verletzt werden.
Das sind die „bedauerlichen“ Kollateralschäden. Die Scheinheiligkeit der behaupteten „Schutzverantwortung“ der NATO wird offenkundig, wenn sie in Tripolis ein Blutbad anrichtet. Rühmte sich die NATO im Falle Bengasis damit, durch ihr Eingreifen ein „drohendes Massaker“ verhindert zu haben, so bereitet sie in Tripolis selbst eines vor.

Wir fordern Bundesaussenminister Dr. Guido Westerwelle auf, seinen Vorsitz im UN – Sicherheitsrat ab Juli dafür zu nutzen, entsprechend der UN-Resolution 1973 eine „sofortige Waffenruhe“ in Libyen herbeizuführen.
Deutschland kann darüber hinaus im NATO-Rat ein Veto gegen das kriegerische Vorgehen des Militärpakts einlegen (in der NATO müssen militärische Maßnahmen einstimmig beschlossen werden). Stattdessen beteiligen sich Politiker/innen aus CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen an Gedankenspielen, die Bundeswehr zur „Sicherung“ einer neuen Regierung und zur „humanitären Hilfe“ in den Libyenkrieg zu entsenden.

Die Friedensbewegung bleibt bei ihren Forderungen:

• Der NATO-Krieg gegen Libyen ist völkerrechtswidrig und muss sofort beendet werden.

• Der Westen soll die Rebellen dazu drängen, einem Waffenstillstand und anschliessenden Verhandlungen mit der libyschen Regierung zuzustimmen.

• Die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union sollen sich als Vermittler in dem internen Konflikt Libyens zur Verfügung stellen.

•Die Bundesregierung soll bei ihrem NEIN zu einer Kriegsteilnahme bleiben und sowohl in der NATO als auch im UN-Sicherheitsrat dafür werben.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken (Berlin), Peter Strutynski (Kassel)

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